Isabel Mundry

Strukturelle Gemeinsamkeiten in Musik und Vogelsang

Prof. Isabel Mundry (gemeinsam mit Roger Mundry)

Anäherung I (IM)
Jeder wird das kennen: Man geht auf Sand und betrachtet die vom Wind entstandenen fragilen Wellenformationen, schaut im Himmel den unberechenbaren Formationen von Vogelscharen nach oder bewundert, wie noch im letzten Winkel einer Betonwüste eine Ameisenstraße entsteht – und man fängt an, über Zeit und Form nachzudenken, über Prozeß und Verwandlung, verwickelt sich in Bahnen künstlerischen Denkens, imaginiert eine neue Komposition und läßt möglicherweise ein Werk entstehen, das eine Geschichte haben wird, während sich jene naturhaft entstandenen Formationen längst schon wieder verflüchtigt haben. Kunst und Natur stehen einander gegenüber. Ist das eine mit Entscheidung, Zeichensetzung, Perspektive und Formgebung verbunden, das sich von Menschen an Menschen richtet und das eine Rezeptionsgeschichte entwickelt hat, so fängt das andere dort an, wo es sich menschlichen Zugriffes entzieht.

Lange Zeit hätte ich behauptet, von dem Handwerk anderer Komponisten lernen zu können, mich von den Klängen der Vögel jedoch allenfalls inspirieren zu lassen. Doch je mehr ich mich der Polarität Natur – künstlerisches Werk annähere, beobachte ich, daß es sich um das Gegenüber zweier Phänomene handelt, die sich nicht nur in Pflanze oder Kunstwerk finden, sondern beide eingelagert sind in den Schaffensprozeß selbst. Sobald ich eine neue Komposition beginne, befinde ich mich in einem komplexen Prozeß der Umsetzung und Strukturierungen von Gedanken und Ideen, die sich im Verhältnis zur entstehenden Partitur wie eine Landschaft zu seinem Bild verhalten. Musikalische Einfälle sind zunächst weit davon entfernt, sich in den Regeln unserer rhythmischen Notationsweise, fünf Notenlinien und den technischen Grenzen der Instrumente zu artikulieren. Sie wollen es nicht. Sie wollen Neues imaginieren, sich auf die Wahrnehmung konzentrieren, nicht in den Regeln anderer denken, sondern ihre eigenen erforschen. Künstlerische Imagination will sich quer zur Geschichte verhalten, und hier können präzise Naturbeobachtungen durchaus anregender sein, als Allintervallreihen des Kompositionsprofessors. Und doch ist die Imagination an Geschichte gebunden, soweit sie gelesen, gehört, gespielt, wahrgenommen werden will. Komponieren bedeutet, die Idee zu analysieren, ihre Regeln und Gesetze zu erforschen, Strukturen zu entwickeln und in Notationen umzusetzen, die für andere lesbar und verstehbar sind. In diesem Sinne ist das Komponieren der Arbeit des Erforschers von Vogelgesängen vielleicht näher als jener des Musikwissenschaftlers, der bereits das Resultat einer Übersetzung in Form der Partitur vor sich liegen hat. Würde der Übersetzungsprozeß des Komponierens nicht stattfinden, würden die Ideen verrauschen wie Sandformationen oder ungehörte Vögel.

Annäherung II (RM)

Musik (IM)
Lese ich Rogers Beschreibungen von Vogelgesängen, so fallen mir erstaunliche Parallelen zur Gestaltung musikalischer Strukturen auf, bis hin zu den Begriffen, die wir verwenden, um das Beobachtete bzw. Imaginierte zu benennen. Auch ich arbeite mit Elementen, die sich dadurch qualifizieren, daß sie mit variativen Abwandlungen wiederholt auftreten und in ihrer Abfolge Teile ergeben (Strophen), mit je einem inneren Zeitverlauf und einem Schlußteil. Im Unterschied zu dem Gesang der Vögel arbeite ich jedoch bevorzugt mit überlagerten Strukturen, Polyphonien, die sich schon allein deshalb ergeben, weil ich nicht nur Solokompositionen schreibe und bei mehrstimmigen Stücken eher an der Gleichzeitigkeit verschiedener Stimmen interessiert bin als an deren Zusammenfassung in Blöcken.

Im zweiten Teil des Zyklus Wer? (nach Textfragmenten von Kafka, für Sopran und Klavier) habe ich zunächst den Text in Abschnitte gegliedert und diese mit Dauern versehen, die eine arithmetische Reihe von 5 bis 9,5 (mit Zunahme von 0,5) ergeben. Die Anordnung der Dauernwerte fächert sich unregelmäßig auf, so daß gegen Ende die Werte kontrastierender sind als am Anfang. Die Abschnitte (Strophen) habe ich in einem zweiten Schritt in Elemente unterteilt, pro Abschnitt in ihrer Anzahl den Textsilben entsprechend. Elemente sind einfache Gestalten: ein crescendierender Liegeton, eine aus mehreren Tönen bestehende aufsteigende Linie usw. Während der Komposition kommen die Elemente permutativ und variierend immer wieder vor, aber der Verlauf arbeitet auch mit dem „Vergessen“ von Elementen bzw. der Hinzufügung von neuen. Schließlich habe ich auch die Abschnitte in einem zweiten Schritt wiederum wie Elemente qualifiziert, um ähnlich mit ihnen zu verfahren wie mit den Elementen selbst, indem auch sie sich variativ wiederholen und gegen Ende zunehmend neue Gestalten entwickeln. Auf diese Weise formt sich der Formverlauf der Singstimme. Für den Klavierpart habe ich dasselbe Prinzip angewendet, jedoch andere Elemente entwickelt und andere Proportionierungen vorgenommen. Auch hier unterliegt die zeitliche Gestalt dem Prinzip von Wiederholung und Verwandlung von Elementen, dem Verschwinden von einigen, die schon häufig vorgekommen sind, und dem Hinzufügen von neuen.

Die folgende Graphik skizziert diesen Vorgang, indem die Elemente schemenhaft angedeutet und mit je einem Kleinbuchstaben versehen sind, so daß sich ablesen läßt, wie sich von Abschnitt zu Abschnitt (hier entsprechend einer Textzeile, bei den Vogelgesängen einer Strophe vergleichbar) die Folge der Elemente gestaltet. Die Großbuchstaben stehen für die Charakterisierung der Abschnitte.

(Graphik)

Beim Vergleich dieser Skizze mit Rogers Analysen der Vogelgesänge fallen mir einige Ähnlichkeiten hinsichtlich der Formgestaltung auf:
– Die Häufigkeit des Auftretens von Elementen ist sehr unterschiedlich, während (a) permanent auftaucht, erklingt (f) wesentlich seltener und (h) nur einmal
– Häufige Elemente finden sich eher am Anfang als am Ende eines Abschnittes.
– Die Reihung der Elemente ist nicht streng geregelt, aber es gibt Folgen, die sehr häufig vorkommen (a-b), während andere einmalig sind (f-b). Zu Anfang der Abschnitte sind häufige Elementfolgen wahrscheinlicher als am Ende.

Abweichend vom Vogelgesang beobachte ich in meiner Komposition, daß es wahrscheinlicher als im Vogelgesang ist, hintereinander zwei Abschnitte zu finden, die wenig Gemeinsamkeiten haben. Das gilt insbesondere für andere Teile des Zyklus, die hier nicht abgebildet sind. Schnittechniken des Films sind mir ebenso vertraut wie prozessuale Verwandlungen, die sich in der Natur finden. Doch an beides habe ich beim Schreiben der Musik nicht gedacht – weder an Vögel noch an Short Cuts. Vielmehr ging es mir darum, einen musikalischen Gedanken zu strukturieren, der teils glasklar, teils diffus vorhanden war; ich entwickelte Ordnungen und Regeln, um ein Spiel mit Wiederholungen und Verwandlungen in Gang zu bringen und um im Umgang mit dem Spiel wiederum die Vision zu durchleuchten – präziser, als es mir gegeben wäre, hätte ich das Ganze einfach improvisiert. Solch abstrakte Überlegungen unterscheiden uns Komponisten sicherlich von den Vögeln, nicht unbedingt aber von den Ornithologen, die, wie wir, Ordnungen im Offenen suchen, und dabei prinzipiell offen bleiben müssen – denn was wissen wir schon von der Natur und was von unseren Ideen.

Schluß (RM)

1/5 Fotos © Cordia Schlegelmilch 2004