Parochiale Gesänge

Berliner Klangkunst Stipendium 2003 der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur

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Dieser Projekt thematisiert ein Phänomen, das sich im Stadtgebiet Berlins ereignet. Es soll ein Transfer von außen nach innen stattfinden: von denSchlafbäumen der Stare am Berliner Dom in die Singuhr-Hörgalerie in Parochial, einem Raum, der der sich explizit der auditiven Rezeption widmet. Mein Projekt soll sowohl im öffentlichen, als auch im Ausstellungsraum stattfinden. Protagonist sind die Zusammenkünfte der Vögel im Stadtgebiet. Verschiedene Ansammlungsorte sollen mit audiovisuellen Medien beobachtet und die Klänge sowie Bilder davon in die Singuhr-Hörgalerie transferiert werden.

Über Generationen adaptiert das Wildleben jedoch auch die Einflüsse des urbanisierten Raums, so auch die Vögel, wie das dänische „Institut für Wald- und Naturforschung“ in einer Studie über Einfluss des Verkehrs auf die Singvögel beschreibt: Vögel, die in der Nähe von Strassen leben, können einander nicht mehr hören, was zu Problemen beim Lernen des Gesangs und beim Kommunizieren mit möglichen Sexualpartnern führt. Florian Rötzer schreibt in dem Essay „Terror des Lärms“ (1999), dass wild lebende Vögel in Städten ihre Gesänge vergessen und oft die Töne imitieren, die sie am meisten hören: Mobiltelefone, Autohupen und Sirenen. Die Berliner Musikwissenschaftlerin Melanie Uerlings berichtete von Staren in einem Rankgewächs an ihrem Haus: „die klingen zum Teil ganz unnatürlich und menschlich und es hört sich an, als ob jeder Star nach seiner Manier singt, der eine pfeift, der eine möwt, der andre macht kuckuck und einer scheint ständig zu niesen und zu husten, sehr merkwürdig…“

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Der Berlin Künstler Wolfgang Müller bekam eine Anfrage nach Verwertungsrechten, nachdem er eine CD mit Aufnahmen von Staren veröffentlichte, die angeblich Kurt Schwitters Ursonate imitierte. Er hatte die Aufnahmen 1997 auf der dänischen Insel Hjertøya an einer Hütte gemacht, in der der dadaistisch inspirierten Künstler von 1932 an regelmäßig seine Sommer verbrachte. Als Müller die Aufnahmen im Jahre 2000 zu einer Ausstellung in der Berliner Galerie „Katze 5“ präsentierte, bekam er einen Brief von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH, die im Nahmen des DuMont Verlages das Werk Schwitters vertritt, mit der Anfrage von wem er die Genehmigung hierzu erhalten habe mit dem „Geschrei der Vögel“ die Ursonate zu intonieren.

In der urbanisierten Landschaft hat sich das Wildleben zu einem bestimmten Grad sein Territorium erhalten bzw. zurückerobert, so auch die Vögel. Mit meinem Projekt fokussiere ich auf große Ansammlungen der Tiere im Stadtgebiet Berlins. Im Spätsommer sind es 1.000de von Staren, die den Kastanienhain zwischen dem Berliner Dom und der Friedrichsbrücke in Berlin-Mitte zur kollektiven Nachtruhe bevölkern. Zwischen November und Februar sind es die Krähen, für dessen Ansammlungen Berlin bereits Bekanntheit erlangt hat.

Stare sammeln sich im Spätsommer bis Herbst zu tausenden an einschlägigen Orten, um dort gemeinsam die Nacht zu verbringen. Stare aus dem Großraum Berlin finden sich allabendlich im Herzen der Stadt ein, wo sie keine natürlichen Feinde fürchten müssen. Beim Einfliegen zu Beginn der Dämmerung kämpfen sie allabendlich auf engstem Raum lautstark um Ihr Territorium in den Schlafbäumen. Bei einer Anhäufung von tausenden ihrer Art verursachen sie damit eine ohrenbetäubende Kakophonie. Da alle Singvögel auch Stimmimitatoren sind, gestaltet sich ihr Gesang sehr differenziert. Es lassen sich Imitationen anderer Vogelspezies, sowie Geräusche aus dem Stadtleben heraushören, wie Telefonsignale, Autohupen oder Werbeslogans aus dem Radio. Je nachdem in welcher Umgebung das Individuum aufwuchs rezitiert es die ihm umgebende Geräusche. Zugute kommt hierbei, dass Stare nicht Kollektivbrüter sind und in Spalten, Nischen und Brutkästen, auch in unmittelbarer Nähe der Menschen brüten.

Installation

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Da die Stare sehr dichte Gruppierungen bilden, sollen der Schlafplätze mehrere kleine Überwachungskameras und Mikrofone installiert werden, die die Tiere aus unmittelbarer Nähe observieren. Die Krähen jedoch versammeln sich nicht in einer solch großen Zahl und lassen sich nicht so dicht zueinander nieder. Dieses Verhalten verlangt meines Erachtens eine manuelle Kameraführung. Auch der Positionierung der Mikrofone sollte hier eine genaue Beobachtung des Verhaltens der Tiere an dem spezifischen Ort vorausgehen.
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Die Audiodaten könnten durch Standleitungen der Telekom, bzw. über Internet (ISDN-DSL Anschlüsse) in die Parochialkirche übertragen und hier über die Software MAX verwaltet werden. Die Programmierung soll einen algorithmischen Verlauf bestimmen, der die Zuspielungen und deren Modultionen potenziert und subtile Klangmodulationen und Mischungen generiert. Über ein mehrkanaliges Interface würde das Audiomaterial Verstärkern zugeführt und in den verschiedenen Räumen der Kirche hörbar gemacht werden. Die Software lässt eine, den unterschiedlichen Räumen entsprechend individuelle Klanggestaltung für einzelne Audioausgänge zu.

Die Klänge sollen vom Dachstuhl aus das Kirchenschiff beschallen, wobei die Lautsprecher nicht sichtbar sein sollen. Auch das Treppenhaus und die Räume des Seitentrakts, sowie der „Glockenturm“ sollen durch weitere, den Volumen der Räume entsprechend kleineren Lautsprechern beschallt werden. Alle Räume sollen ansonsten leer und begehbar sein.

Die Parochialkirche
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Parochial bedeutet „Amtsbezirk eines Geistlichen“ (auch „Kirchsprengel“). Der Name Parochialkirche lässt sich also mit „Gemeindekirche“ übersetzen. Diese ist nicht nur zentrale Wirkungsstätte eines Geistlichen, sondern hat zusätzlich in den letzten Jahren über die Grenzen Berlins hinaus Bekanntheit durch die Aktivitäten der Singuhr-Hörgalerie erlangt. Damit ist sie auch zu einem Ort der „Gemeinde“ der Klangkunstszene avanciert. Z.Zt. finden hier nur kirchliche Sonderveranstaltungen statt. Wegen der lang anhaltenden Renovierungsarbeiten hält die Gemeinde die Gottesdienste in der Marienkirche ab. In Korrespondenz zu der verwaisen Religionsgemeinde und der etablierten Gemeinde der Klangkunst Szene steht hier die soziale Gemeinschaft der Vögel, deren Individuen allabendlich und lautstark den Kampf um das eigene Terrain auszufechten haben. Mit der Installation soll der Eindruck entstehen, dass ganze Gebäude sei von einer Vogelgemeinde in Beschlag genommen. Dazu soll das Kirchenschiff, das Treppenhaus sowie die Räume im Seitentrakt beschallt werden. Durch mindestens vier Beamer sollen die Videobilder der Vogelansammlungen in das Kirchenschiff sowie mit kleineren Projektoren an die Gewölbedecken des sog. Glockenraumes projiziert werden.