Roger Mundry

Strukturell Gemeinsamkeiten in Musik und Vogelsang

Dr. Roger Mundry (gemeinsam mit Isabel Mundry)

Annäherung I (IM)

Annäherung II (RM)
Vordergründig haben Musik und Vogelgesang nicht viel mehr gemeinsam als den Sinn, mit dem sie wahrgenommen werden: das Ohr. Ein nur wenig genauerer Blick macht jedoch deutlich, daß es weitere Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gibt. So handelt es sich z.B. bei beiden um zeitlich strukturierte Prozesse, in denen einzelne akustische Muster (z.B. Töne oder Akkorde in der Musik; Elemente oder Strophen im Vogelgesang) nach jeweils bestimmten Regeln aufeinander folgen. Gerade diese Abfolge konstituiert aber erst die eigentliche akustische „Botschaft“; eine Veränderung der Abfolge akustischer Muster ergäbe ein anderes Musikstück bzw. eine andere oder eine nicht existierende Vogelart.

Ein wichtiger Unterschied zwischen Musik und Vogelgesang findet sich naturgemäß in dem Zweck der Auseinandersetzung mit ihnen und der dabei zum Tragen kommenden Vorgehensweise. Musik wird in einem mehr oder weniger bewußten Prozeß von Menschen geschaffen, wobei die Regeln der Komposition zumeist in gewissen Grenzen schon feststehen, bevor die eigentliche Abfolge der Töne, Klänge und Akkorde geschaffen wird. Demgegenüber wird Vogelgesang z.B. erforscht, um zu erfahren, wie Tiere komplexe Verhaltensprozesse strukturieren und, speziell im Gesang, einzelne Muster aus einer Vielzahl im Gedächtnis gespeicherter Muster auswählen. Aus den dabei erkennbaren Regeln erhofft man sich dann z.B. Rückschlüsse darauf, wie Gedächtnisse strukturiert sind. In beiden Fällen – Musik und Vogelgesang – ergibt sich also die Abfolge der akustischen Muster aus den zu Grunde liegenden Regeln. Jedoch werden diese Regeln in der Musik von Menschen im Voraus gesetzt, im Falle des Vogelgesanges aber im nachhinein aus den Abfolgen erschlossen.

Vogelgesang (RM)
In seiner zeitlichen Abfolge setzt sich der Gesang vieler Vögel aus zwei leicht abgrenzbaren Untereinheiten zusammen. Auf unterster Ebene sind dies die sogenannten „Elemente“, zeitlich ununterbrochene akustische Lautmuster. Aus diesen formen viele Vögel sogenannte „Strophen“. Diese bestehen aus mehreren Elementen, die in enger zeitlicher Abfolge vorgetragen werden, dauern bei vielen heimischen Vogelarten etwa zwei bis vier Sekunden und sind durch etwa ebenso lange Pausen voneinander getrennt. Der Vergleich verschiedener, in derselben oder auch in verschiedenen Strophen gesungener Elemente ergibt in der Regel, daß Elemente mit weitgehend identischer akustischer Gestalt an verschiedenen Positionen in der Gesangssequenz auftreten. Hieraus läßt sich die Existenz eines „Elementrepertoires“ schlußfolgern: das Singvogelindividuum besitzt einen begrenzten Satz an „Elementtypen“, aus denen es jeweils bestimmte nacheinander auswählt und in einer Strophe gemeinsam vorträgt.

Am Beispiel des Sprossers (Luscinia luscinia), eines nahen Verwandten der Nachtigall (Luscinia megarhynchos), sollen nun kurz einige der Regeln skizziert werden, nach denen die Elementtypen in den Strophensequenzen von acht untersuchten Individuen auftraten:
– Die verschiedenen Elementtypen waren sehr verschieden häufig. Während einige wenige in nahezu allen Strophen einer Sequenz zu finden waren, wurden andere in nur sehr wenigen Strophen gesungen.
– Elemente, die in vielen Strophen gesungen wurden, fanden sich eher am Anfang der einzelnen Strophen, solche, die in wenigen Strophen gesungen wurden, fanden sich eher an deren Schluß.
– Bei der weit überwiegenden Mehrzahl der Elementtypen fand sich im unmittelbaren Anschluß an ihr Auftreten nicht stets derselbe Elementtyp, die Abfolge der Elemente war also nicht deterministisch. Jedoch war die Abfolge andererseits auch nicht chaotisch, was daran erkennbar wird, daß jeweils bestimmte Elementtypfolgen sehr häufig auftraten, andere sehr selten oder auch gar nicht. Der Determinationsgrad der Abfolge der Elementtypen nahm dabei im Verlauf der einzelnen Strophen ab.
– Unmittelbar aufeinander folgende Strophen hatten mehr gemeinsame Elemente als solche, die in der Sequenz weiter voneinander entfernt auftraten. Ferner war bei einigen Individuen eine Periodizität in der Übereinstimmung zwischen Strophen erkennbar: Strophen mit bestimmten Abständen und deren ganzzahligen Vielfachen wiesen jeweils besonders viele gemeinsame Elementtypen auf.

Musik (IM)

Schluß (RM)

Diese kurzen Betrachtungen zweier mehr oder weniger zufällig ausgewählter Beispiele aus Musik und Vogelgesang mögen demonstrieren, daß es tatsächlich (teilweise verblüffende) strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gibt. Diese Gemeinsamkeiten finden sich dabei einerseits auf der Ebene des Auftretens und der Abfolge elementarer Einheiten. Andererseits erschließen sich wesentliche Aspekte der hier dargestellten Beispiele erst durch eine Betrachtung längerer Sequenzen des Sprossergesanges bzw. des gesamten Musikstückes.

1/4 Fotos © Cordia Schlegelmilch 2004