Christina Kubisch
Vögel, die singen, und Singen ohne Vögel
Prof. Christina Kubisch
Seit vielen Jahren, eigentlich schon seit meinen ersten Ausstellungen, haben sich immer wieder Vögel in das akustische Geschehen meiner Performances, Audiokompositionen und Klanginstallationen eingenistet.
Die Gründe dafür kenne ich nicht genau. Ich mag Vögel, aber abgesehen von einem Wellensittich namens Hansi, den ich als Kind besaß, habe ich nie Vögel gehabt oder gehalten. Sie faszinieren mich durch ihre Schönheit, ihre flüchtige Erscheinung, die Komplexität, Vielfalt und Fremdheit ihres Gesanges.
1977 entstand die erste Arbeit, die akustisch von Vögeln inspiriert wurde: A History of Soundcards. Auslöser und Beweggründe für diese Konzertinstallation waren unterschiedlich, jedoch gleich beeindruckend: das fast völlige Fehlen von Komponistinnen in der europäischen Musikgeschichte (Stand siebziger Jahre) und der Fund einer quietschenden Postkarte. Letztere war damals in Mailand, wo ich seit 1973 lebte, als Geburtstagsgruß im Handel und bestand aus einer bauchigen Postkarte mit einem kleinen Luftloch auf der Rückseite, der man durch kräftiges Drücken eine Art Zwitscherlaut entlocken konnte.
Ich kaufte alle verfügbaren Karten und stellte fest, daß das akustische Angebot vielversprechend war. Nach einigen Recherchen fand ich auch die Herstellerfirma heraus. Zwei ältere Damen bastelten die Soundcards in einem Kellergeschoß, indem sie vorsichtig kleine Metallzungen zwischen Vorder- und Rückseite der Postkarten befestigten, die durch den Luftzug (wie bei einem Akkordeon) zu klingen begannen.
A History of Soundcards besteht aus Portraitreproduktionen der hundert berühmtesten Komponisten der klassischen Musikgeschichte, die jeweils auf der Vorderseite einer klingenden Postkarte abgebildet sind. Bei der Premiere in New York 1978 wurden die Musikerköpfe nacheinander an die Wand projiziert, während ich gleichzeitig die Postkarten und den zum Komponisten zugehörigen Klang vorführte. Im Hintergrund, als Tonband vorbereitet, überlagerten sich diese Klänge immer mehr und schwollen an zu einem Chor von wild gewordenen Urwaldvögeln – jedenfalls stellte ich mir das so vor. Beethoven, Mozart und Strawinsky gingen in einem quietschendem, zirpendem, krächzendem Postkartengesang unter. (Foto)
Der Wunsch, das Publikum nicht nur von der Bühne aus zu erreichen, brachte mich bald danach zu Forschungen über das System der elektromagnetischen Installation. Ich wollte Klangräume errichten, in denen die Menschen die Dauer und Art des Hörens im Klangraum selbst bestimmen konnten. Ende der siebziger Jahre entwickelte ich mit Hilfe eines elektromagnetischen Induktionssystems die ersten Arbeiten dieser Art. Die Besucher erhielten kleine kubische Würfel, die sie ans Ohr oder auch einfach nur in der Hand mit sich herumtragen und mit denen sie sich in einem Netz von Elektrokabel bewegen konnten. Je nach Ort und Wegrichtung konnten sie mit diesen im Gehen oder Stehen verschiedene Klänge empfangen. Besonders gerne – und das gilt bis heute – habe ich in Naturräumen installiert: in Parkanlagen, Gärten, unter Bäumen und auch im Wasser. In Lugano („Musica oggi“, Villa Sairoli, 1980) spannte ich gelb-grüne Elektrokabel zwischen Pflanzen, Büsche und Bäume und füllte diese Räume mit elektronischen Klängen eigener Herstellung, die denen „echter“ Vögel sehr ähnlich waren, diese aber nicht imitierten. Es war spannend, das Publikum mit den Hörwürfeln durch den Park wandern zu sehen, intensiv lauschend, nicht sicher, ob das, was sie gerade hörten, aus einem elektromagnetischen Kabelfeld oder aus der Kehle eines Vogels kam. (Foto)
Die Suche nach dem Original, sei es in der Erinnerung, sei es im konzentrierten Hören in der Natur, ausgelöst durch einen künstlichen Klang, der als „ähnlich“, aber doch nicht echt empfunden wird, ist immer wieder Bestandteil meiner Arbeiten gewesen. Vogelstimmen spielten in den Installationen mit magnetischer Induktion dabei eine wichtige Rolle. The True and the False, das Wahre und das Falsche, Natur und Technik, das Original und seine Kopie … – Themen, bei denen nicht immer klar ist, ob der Vogel oder sein elektronischer Partner als das Original definiert werden. Vor allem im Außenraum erprobte ich mit diesen interaktiven Klanginstallationen in spielerischer Form, um den Hörsinn zu verwirren und zu hinterfragen.
In dieser Zeit habe ich auch eine immer größer werdende Bibliothek von Vogelklängen angelegt – mit Material aus Archiven, Klängen von Bestimmungs-CDs, Aufnahmen von Ornithologen und eigenen Aufnahmen.
Der Vogelbaum ist eine elektromagnetische Wandinstallation, die 1987 zum erstenmal in Bremen („Terra moriens“, Forum Böttcherstraße) gezeigt wurde. Dicke, gelb-grüne Elektrokabel bilden auf einer langen Wand eine „Zeichnung“ aus Zweigen und Ästen, die man nicht nur als Wandrelief betrachten, sondern auch hören kann. Mit Hilfe eines kabellosen Kopfhörers wird beim Vorübergehen in jedem Ast bzw. Kabelfeld eine andere Vogelstimme hörbar. Beim Hin-und Hergehen ergibt sich ein wechselnder Chor von Vogelstimmen. Diese sind, im Gegensatz zu den früheren Arbeiten, echte Vogelstimmen, nur geringfügig geschnitten und geloopt, aber sonst unverändert. Verwendet wurden seltene, teilweise exotische und kaum bekannte Gesänge. Bei dieser ersten Version (und auch später) waren die meisten Besucher überzeugt, es handele sich um artifizielle, künstlich erzeugte, um elektronische Klänge. Wie schon früher, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, wurde die eigene Wahrnehmung und Kenntnis von Natur hinterfragt. (Zeichnung, Foto).
Ebenfalls 1987 fand anläßlich des Steirischen Herbstes in Graz ein Festival mit dem Namen „Animal Art“ statt. Mein Beitrag bestand aus vielen kleinen Vogelhäuschen, mit denen ich eine große Linde vor einem der beliebtesten Gasthäuser in Graz bestückte und aus denen eine mehrteilige Komposition aus Vogelstimmen ertönte. Jedes Häuschen hatte einen für die österreichische Landschaft und das Gasthaus passenden Bewohner, der während des gesamten Festivals fröhlich bis Mitternacht sang und zwitscherte. Eine wahre Idylle, deren künstliche Herkunft den meisten Besuchern nicht einmal auffiel. (Foto)
Viele meiner Arbeiten entwickeln sich aus den vorhergehenden, der rote Faden bleibt rot, aber das Muster aus Kabeln und Klängen verändert sich immer wieder. Die Veränderung entstehen durch Naturbeobachtungen und Entdeckungen technischer Art. Besonders in Italien habe ich oft gegen abend Gruppen von Mauerseglern beobachtet, die durch die Luft zogen. Viele der alten Gebäude, in denen ich Installationen machen konnte, wurden von ihren schnellen hohen Lauten begleitet.
Zeitgleich entdeckte ich in einem Elektronikmarkt Tierscheuchen, kleine Geräte, die angeblich Insekten, Ungeziefer aber auch größere Tiere durch das Aussenden von Schallwellen im Ultraschallbereich vertreiben. Wenn man diese Geräte mit ungenügenden Mengen von Strom fütterte, gaben sie überraschend vielseitige, glissandoartige hohe Klänge von sich, die mich stark an den Abendgesang der Mauersegler erinnerten. In der Folgezeit entwickelte ich zusammen mit dem Berliner Ingenieur Manfred Fox ein „Ultraschallinstrument“, das aus Tierscheuchen und einer elektronischen Steuerung für die Hüllkurven, Dauern, rhythmischen Folgen etc. der gerade unterhalb der Hörgrenze erzeugten Klänge bestand. Diese Klänge setzte ich vorwiegend in Innenräumen ein, oft in Verbindung mit UV-Licht, das ebenfalls an der Grenze der menschlichen Wahrnehmung liegt. (Foto Kino Babylon, Berlin 1989).
Die Möglichkeit, mit falscher Stromzufuhr Unsinn zu stiften, hat mich schon viele kaputte Geräte und Kurzschlüsse gekostet, aber es macht sehr großen Spaß, technische Geräte falsch zu bedienen. Oft ist das Ergebnis viel interessanter als die eigentlich vorgesehene Funktionsweise, wenigstens akustisch gesehen. Ich versuchte, noch einen Schritt weiterzugehen und die Natur direkt in diese Prozesse miteinzubeziehen. Seit 1990 arbeite ich mit Solarenergie, um damit Audiogeräte zu steuern und Klänge zu erzeugen. Je nach Lichtstärke, Wetterlage, Tageszeit und Jahreszeit ergeben sich eine Vielfalt von akustischen Ereignissen, die trotz der immanenten Aleatorik auch kompositorisch interessant sein können. Ich benutze dazu vielfältige elektronische Komponenten wie Alarsummer, Signalgeber verschiedenster Art und selbstentwickelte Schaltungen, um im Vogelbereich etwas Neues zu entwickeln. Daraus entstand die Reihe der Installationen X Klänge und ein baum, die ich in vielen Ländern im In- und Ausland mit wechselnden Klangerzeugern, Lautsprechern und verschiedenen räumlichen Anordnungen realisiert habe.
Die elektronische Energie der Solarzellen wird über ein elektronisches Steuergerät an kleine in Büschen oder Bäumen installierte Lautsprecher weitergeleitet. Je nach Lichtintensität erzeugen diese Module wechselnde Klänge, die dem Zeitrhythmus der Naturfolgen, sie beginnen früh am Morgen und enden in der späten Dämmerung. Ihr Zusammenspiel und auch die Zeiten der dazwischenliegenden Pausen und der Stille hängen von den verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, Helle und Dunkelheit, Licht und Schatten ab. Licht wird so akustisch erfahrbar, Technik und Natur werden zu interaktiven Partnern, „echte“ und „falsche“ Vogelstimmen verbinden sich, und die Grenzen zwischen Original und Reproduktion, zwischen Realität und Fiktion sind nicht mehr klar voneinander abgegrenzt.
In der Akademie der Künste Berlin, wo im Hof über mehrere Wochen eine solche Installation lief, erzählte mir das Aufsichtspersonal, daß die echten Vögel schon bald in einen Dialog mit den künstlichen Partnern getreten seien und diese erfolgreich imitiert hätten. (Zeichnung, Foto).
Diese Beobachtungen führten zu einer weiteren Arbeit für einen Menschen und einen fehlenden Vogel, eine Nachtigall.
Bei Nachtigallen, vor allem wenn sie abends singen, werde ich sentimental und wehmütig. So konnte ich auch gut verstehen, daß ein privater Sammler, dessen Lieblingsvogel die Nachtigall ist, der aber keine Nachtigall auch nur von Ferne in der Nähe seines Grundstücks entdecken konnte, mich fragte, ob ich ihm eine künstliche Nachtigall verschaffen könne. Der großen Tradition dieses Wunsches bewußt versuchte ich es trotzdem. So steht nun eine blaueSolarzelle mit einem eingebautem Lautsprecher zwischen den Bäumen, sammelt tagsüber Energie und beginnt gegen abend, wenn es dämmert, zu „singen“. Die künstliche Nachtigall singt dann bis spät in die Nacht hinein. Über hundert Samples von selbstaufgezeichneten oder sonstigen gesammelten Nachtigallstimmen werden durch ein Zufallsprogramm eines integrierten Computers abgerufen, unterbrochen durch längere Phasen der Stille. Ornithologisch gesehen ist dieser Gesang sicher nicht korrekt, aber er ist schön! Die Vögel der Umgebung, so die Auskunft des Besitzers, haben inzwischen auch begonnen, die künstliche Nachtigall zu imitieren, so daß er diese (wenigstens zweitweise) auch wieder abschalten kann.
Die künstliche Nachahmung von Vogelstimmen hat auch noch eine andere Tradition: das „birding“. So wird die Imitation von Vogelrufen durch menschliche Stimmen genannt. Es gibt traditionelle und moderne Spielarten dieser pädagogisch bedingten Sprachforschung, von „teakettle, teakettle“ über „who’s the cook“ bis zu noch anspruchsvolleren „Übersetzungen“. 2003 entstand im Auftrag des schwedischen Rundfunks das kleine Sprachstück teatime, das sich, wie bei einem Puzzle, nur aus Begriffen des „birding“ zusammensetzt und für das Ed Osborn freundlicherweise seine Stimme zur Verfügung gestellt hat.
Die jüngste Arbeit, die sich mit Vögeln beschäftigt, heißt Vierzehn Fenster und vierzehn Klänge und ist für den Turm des Märkischen Museums entstanden. Rund um den Turm sind außen in den Fensternischen Solarzellen installiert, deren Energie durch eine elektronische Steuerung gesteuert und akustisch umgesetzt wird. Den Himmelsrichtungen folgend werden bestimmte Gruppen von Klängen aktiviert, die zudem je nach Tageszeit und Wetterlage häufiger oder seltener, lauter oder leiser erklingen. Auf dem langen Weg zur obersten Ebene des Turmes kann man sich an diesen Stimmen orientieren – oder auch nicht.