Rudolf Frisius

Vogelstimmen – Vogel-Musik(en)

Prof. Dr. Rudolf Frisius
Eine Grafik mit zwei Zeichen – eine Notation mit zwei (textierten) Noten: Was haben diese beiden Abbildungen miteinander gemein? Beide Abbildungen sollen Abbildungen von Kuckucksrufen sein: Die erste kann auf dem Bildschirm eines Computers erscheinen, wenn dieser einen aufgenommenen Kuckucksruf reproduziert: als grafische Darstellung eines Hörereignisses. Die zweite kann man in Liederbüchern finden: als Beginn eines einfachen Musikstückes.
Ein Ton – ein etwas tieferer Ton – eine Pause: So einfach klingt im Kinderlied der von Menschen nachgeahmte Kuckucksruf. Zwei Töne und eine Pause – das ist alles. Wenn der Kuckuck länger zu Wort kommen soll, wird sein Ruf einfach wiederholt. Damit ist der Anfang der Melodie gefunden: das Hauptmotiv und seine tongetreue Wiederkehr. (Das Kuckuckslied ist insoweit nicht anders gebaut als ein wohlbekanntes Weihnachtslied: „Stille Nacht…“.) Die monotone Melodie präsentiert sich hier als Abbild monotonen Vogelgesanges.
Ein natürlicher Kuckucksruf – ein weiterer – ein dritter: Die Rufe und ihre graphischen Abbilder sind einander recht ähnlich. Interessant ist allerdings, daß sie in unterschiedlichen Abständen aufeinander folgen.
Kuckucksrufe wiederholen sich oft – nicht nur in der nachahmenden Musik des Menschen, sondern auch in der Natur selbst. Je öfter sie erklingen, desto gründlicher kann man prüfen, ob sie sich wirklich genau, vollkommen unverändert wiederholen. Der Höreindruck und, präziser noch, das Computer-Sonagramm des aufgenommenen Hörereignisses können Zweifel daran wecken. Schon beim Studium von drei Rufen kann deutlich auffallen, daß sie nicht in gleichen Abständen aufeinander folgen, daß beispielsweise die Pause zwischen den ersten beiden kleiner ist als die Pause zwischen dem zweiten und dritten. Solche Unterschiede gibt es auch in Musik mit nachgeahmten Vogelrufen, z. B. in der Kuckucks-Musik im Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns: der Kuckuck im Wald, nachgeahmt von einer Klarinette in Begleitung von zwei Klavieren. Die Pausen wechseln, aber die Kuckucks-Terz bleibt immer gleich. (Es ist übrigens, anders als im deutschen Kinderlied, keine kleine Terz, sondern eine große. Man kann sich fragen, ob das eine oder das andere oder keines von beidem richtig ist.) Nur die Klavierakkorde ändern sich: das musikalische Abbild des Waldes mit wechselnden Dreiklängen – wobei der Kuckucksruf anfangs einfach in Dur harmonisiert wird, später in komplizierterer Weise: Gleichsam schweben, auf einem „vagierenden“ Akkord im Sinne Arnold Schönbergs, einem übermäßigen Dreiklang.
Monotone Vogelrufe in einem fortwährend sich verändernden akustischen Kontext: Dies gibt es nicht nur in von Menschen komponierten Vogelmusiken, sondern auch in der Natur. Im rein akustischen Kontext wird dies dann am deutlichsten, wenn man Aufnahmen mit Kuckucksrufen abhört und/oder ihre graphischen Darstellungen ansieht (z. B. Abb. 2): Naturaufnahmen mit einzelnen Vogelstimmen sind oft weniger „klinisch rein“ als ihre musikalischen Nachahmungen: Man hört vielleicht einzelne Vogelrufe im Vordergrund, aber man hört gleichzeitig auch viele und vielfältig wechselnde andere Vogelstimmen im Hintergrund.
Vogelmusik, in der mehreres gleichzeitig erklingt – vielschichtige und vielstimmige Menschenmusik: Beides ist denkbar unterschiedlich, aber andererseits auch in mancherlei Hinsicht vergleichbar. Wie solche Vergleiche ausfallen, kann von vielen höchst unterschiedlichen Umständen abhängen – nicht nur von den Vogelstimmen und ihren Konstellationen, sondern z. B. auch von konkreten musiksprachlichen Gegebenheiten. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn man Vogelmusiken unterschiedlicher Genres und aus unterschiedlichen Genres miteinander vergleicht.
Ein vierstimmiger Sommerkanon mit zweistimmiger Ostinatobegleitung aus dem 13. Jahrhundert: Besungen wird der Kuckuck, an markanter Stelle sogar mit einer (kleinen) Kuckucks-Terz, die gleichsam als Extrakt der ersten Melodietakte erscheint: Die Terz ist eingebettet in Dreiklang und Tonleiter.
Vogelmusik und Menschenmusik haben gemeinsame, aber auch durchaus unterschiedliche Zonen.
Dies wird im Sommerkanon dadurch deutlich, daß der Kuckuck manchmal in tonmalerisch deutbaren Terzen in Musik gesetzt wird, manchmal aber auch in durchaus menschenspezifischen Tonleiterschritten.Erst in späteren Zeiten gab es Versuche, Vogellaute und musikalische Strukturen noch enger zu integrieren, beispielsweise motivisch verarbeitete Kuckucksrufe bei Antonio Vivaldi (Die Jahreszeiten: „Der Sommer“, I. Satz). und später, noch deutlicher profiliert, bei Gustav Mahler (1. Symphonie).
Von ganz anderer Art ist ein Versuch mehrschichtiger Vogelstimmen-Musik bei Beethoven:
Am Schluß des II. Satzes seiner 6. Symphonie integriert er Vogelrufe nicht nur in musikalische Strukturen (in einen B-Dur-Dreiklang in einfacher taktrhythmischer Periodisierung),
sondern auch ineinander: in eine komponierte Vogelstimmen-Collage mit Nachtigall, Wachtel und Kuckuck, die sich in der Collagierung realer Vogelstimmen-Fragmente nachstellen läßt.

Beethoven kombiniert drei verschiedene Vogelstimmen:
– Wachtel (prägnantes Eintonmotiv mit punktiertem Rhythmus als Melodie: Oboe, Dreiklangsterz)
– Nachtigall (sich beschleunigender und melodisch abrundender Quint-Triller als Mittelstimme: Flöte)
– Kuckuck (einfaches Zweitonmotiv als Unterstimme mit Terz und Grundton: Klarinette)

Der rhythmisch prägnante Wachtelruf markiert gleichsam eine Zwischenposition
zwischen dem rhythmisch belebten Triller der Nachtigall und dem rhythmisch monotonen Kuckucksruf: Die Nachtigall erscheint als Antipode des Kuckucks, wie wir dies auch aus vielen volkstümlichen Liedertexten kennen. (Den wohl bekanntesten dieser Texte, der Kuckuck und Nachtigall dem Esel als Musikkritiker vorsingen läßt, hat Gustav Mahler vertont.) Wie stark sich der komplexe Gesang der Nachtigall vom einfachen Ruf des Kuckucks unterscheidet, läßt sich auch daran ablesen, daß dieser Gesang, anders als der Kuckucksruf, in vielen Beispielen älterer Vokalmusik oft textlich gerühmt, aber kaum prägnant musikalisch imitiert wird: Dies wäre unter den stilistischen Prämissen „Alter Musik“ sehr schwierig gewesen. Auch in späteren Epochen, selbst noch bei Beethoven, hat sich dies noch nicht grundlegend verändert: Die Imitation der Nachtigall mit einem einfachen Triller ist eine starke melodische und rhythmische Vergröberung des realen Vogelgesanges. Anders ist dies in einem symphonischen Beispiel von Gustav Mahler: Wenn im Finale seiner 2. Symphonie, als Signal der Auferweckung der Toten, eine vom Gesang der Nachtigall inspirierte Musik ertönt, dann löst die Musik sich weitgehend von tradierten melodischen und vor allem metrischen Bindungen, und sie folgt der Lebendigkeit, der melodischen und rhythmischen Flexibilität des natürlichen Vogelgesanges.

1/8 Fotos © Cordia Schlegelmilch 2004