Flügelschlag (Feld 1)

Jutta Ravenna

Der Gebäudekomplex des Märkischen Museums ist durch ein Konglomerat unterschiedlicher architektonischer Stilistiken im Sinne des Historismus charakterisiert. Diese Komplexität historischer Zitate findet sich auch an der Fassade wieder.
Durch das Bauwerk vom Großstadtlärm akustisch abgeschirmt, ist es im angrenzenden Park so ruhig, daß man auch leise Geräusche wahrzunehmen vermag. Die Geräusche der Stadt verschmelzen an diesem Ort zu einem kontinuierlichen, doch leisen Strom und ermöglichen die Arbeit mit besonders unscheinbaren Geräuschen.

revenna1Flügelschlag thematisiert die Weigerung der Natur, ihre Lebendigkeit zur Schau zu stellen.
Durch Fassadenbegrünung wird oftmals die Natur in den urbanen Raum zurückgeholt. So rankt sich an der Fassade des Märkischen Museums zum Köllnischen Park hin weitflächig ein Pflanzenpelz aus Weinlaub. Das Ineinander von Natur und Architektur schafft einen ravenna2Gegensatz; die klare linienhafte Kontur der tektonischen Form wird durch die vegetative Textur der Ranken an ihrer Oberfläche/Außenhaut aufgebrochen. „Gerade aus dem Gegensatz harter, kristalliner Baukörper zu weichen, organischen Formen erwächst eine innere Spannung, die beide in ihrer Kraft steigert…“ (H. Wölfflin). Die Inbesitznahme des architektonischen Körpers durch die Pflanzen löst den rechten Winkel des Kubus an einigen Stellen auf. Diese sich jährlich selbst kontinuierlich erneuernde und ausbreitende Biostruktur stemmt sich der Statik des gebauten Raumes entgegen. „Im Spannungsfeld polarer Kräfte – der Anstrengungen des Menschen zur Aufrechterhaltung von ihm geschaffener künstlicher Strukturen einerseits und den alles überformenden Naturmächten andererseits – ist Verwilderung eine Metamorphose, ausgelöst durch absichtliche oder ungewollte Verschiebung der Kräfte hin zu wachsender Natürlichkeit und abnehmender Künstlichkeit.“ (C. Loidl-Reisch)
Inmitten dieses Großstadtidylls partieller Verwilderung nisten sich Vögel und Insekten ein. Das Wuchern des Vegeta-tiven am Bauwerk als anthropogener Einrichtung scheint sich als „veränderliche und ziemlich unbegreifliche Welt zu offenbaren, wo Überraschungen an der Tagesordnung sind“ (Ch. Norberg-Schulz).
Als Refugium für die Tierwelt bietet die Vegetationsentwicklung an der Fassade Schutz für Vögel, Käfer, Spinnen und andere Insekten. Großstadtvögel finden hier Rastplatz, Nistmöglichkeiten und Insektennahrung. Im Pflanzenpelz des Bauwerks, der das Mauerwerk malerisch überwuchert, haben sich scheinbar Vögel versteckt. Ihr Flügelschlagen machen im Weinlaub versteckte Lautsprecher aus räumlich wechselnden Positionen hörbar. Eine akustische Täuschung entsteht: Rühren die Tiergeräusche von den Lautsprechern her oder kommt das Flügelschlagen von lebendigen Vögeln?

Die Hörer können von der Terrasse aus horchend das für sie unsichtbare Lautsprecherfeld erkunden. Das Klangfeld mit wechselnden Raumpunkten suggeriert eine in sich bewegte, unscharfe, flüchtige Fläche. Mal sich verdichtend, mal sich wie ein Netz ausdünnend, entspricht es den Ansammlungen einer Vogelschar. Unsichtbar, aber mit raumgreifender Wirkung bewegt sich ein Flattern unterhalb der Oberfläche des Pflanzenpelzes/Weinlaubs. Das Auseinanderschwingen und Aneinanderschlagen der ausgebreiteten Flügel wird leise hörbar. Die zarten Flügelschlaggeräusche sind so leise, daß das Ohr auch andere Geräusche der Umgebung wahrnimmt.
Wenn Vögel in Bäumen, Sträuchern oder Rankengewächsen sitzen, sind sie für Menschen nicht zu sehen. Das Schlagen der Flügel aus dem Lautsprecher verrät, wo sie sich momentan aufhalten. Das menschliche Ohr lokalisiert den Ort ihrer flüchtigen Erscheinung. Überraschendes Aufflattern und Flügelrauschen beschwören das plötzliche Verlassen des Ortes. Fühlten sich die Vögel durch den Hörer beobachtet?
Der akustische Flügelschlag, aus der Nähe für das menschliche Ohr gut wahrnehmbar, wird aus der Ferne, bei Beobachtung der Vögel, die am Himmel fliegen, als ob es keine Schwerkraft gäbe, zum visuellen Objekt. Die Lautlosigkeit des Flügelschlags in der Ferne wird für den Menschen zum Sehding.
Artspezifischen Gesetzen folgend, bildet die Vogelschar dort ihre Formationen quasi als bewegte Graphik.