Kunst, die vom Himmel fällt

Die Musik der Vögel ist voller Plagiate

von Gustav Adolf Henning
DIE ZEIT Rubrik „Welt im Wandel“ vom 22. März 1968

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In seiner musikalischen Poetik spricht Igor Strawinsky vom „Vergnügen, das man beim Rascheln der Bäume im Wind, beim Rauschen des Baches, beim Gesang eines Vogels empfindet„. Derlei Klangphänomene aber seien keine Musik. Zur musikalischen Schöpfung, so fordert der Komponist, bedarf es eines Menschen, der zwar empfänglich sei für alle Stimmen der Natur, „aber außerdem noch das Bedürfnis hat, diese Dinge in Ordnung zu bringen und dafür speziell begabt ist… Denn was mit dem Vogelsang vom Himmel fällt, ist keine Kunst„.
Hierin nun irrt der Meister zwiefach. Denn was mit dem Vogelsang vom Himmel fällt, ist bereits etwas in Ordnung Gebrachtes, wenngleich nicht vom Menschen. Im Vogelsang herrschen Gesetzmäßigkeiten; er läßt sich nicht mit dem „gesetzlosen“ Wipfelrauschen in eine Pauschalkategrie der Naturgeräusche einstufen.
Zum anderen gibt es speziell begabte Vögel, die anscheinend das Bedürfnis haben, ihre Gesänge nach musikösthetischen Prinzipien zu gestalten. Zu ästhetischen Leistungen jedenfalls sind schon weit einfachere Nervensysteme fähig als menschliche.
Zwingend wurde dieser Schluß in jüngster Zeit durch eine Reihe sorgfältiger Untersuchungen des Erlanger Zoologen Professor Dr. Erwin Tretzel, „Wesentliche Komponenten„, so erklärte der  Vogelstimmforscher zusammenfassend, „die unserer Musik Form, Wirkung und Schönheit verleihen, lassen sich in einfacher, aber prinzipiell gleichartiger Form bereits in den Gesängen verschiedener Vogelarten finden.
Die Beurteilung der Musikalität von Singvögeln führt nun zwangsläufig in ein Grenzgebiet zwischen Natur- und Musikwissenschaft.Grenzgebiete werden stets erst spät bearbeitet – weil es sich zwischen zwei Stühlen unbequem sitzt. Außerdem sind Vogelkundler nur selten Musikwissenschaftler, und Musikwissenschaftler wiederum neigen kaum dazu, in dem fremdartigen „atonalen Tonsystem“ der Vogelgesänge zu denken und zu urteilen. Vögel singen im allgemeinen nicht im diatonischen Tonsystem, was jedoch für das Urteil über ihre Musikalität unwichtig ist.

Aufschlußreicher Spott
Als besonders aufschlußreich für eine musikästhetische Analyse haben sich bei den Forschungen Professor Tretzels die Imitation oder „Spottgesänge“ erwiesen. Viele Gesänge sind nicht rein angeboren, sondern aus angeborenen und erlernten Anteilen zusammendesetzt. Gelernt wird dann der Artgesang vom Vater, aber eine ganze Reihe spottbegabter Arten übernimmt auch Abschnitte aus den Gesängen artfremder Vögel.Oder aber der Vater spottet bereits und gibt die Spottmotive an seine Jungen weiter, die sie vielleicht noch vervollständigen, so daß Gesangstraditionen entstehen, die wie Dialekte auf den Bestand eines bestimmten Gebietes begrenzt sind.
Schon beim Studium einer Gartengrasmücken-Population in einem Wald nahe Erlangen, wo die Nachahmung von Buchfinkengesängen in Mode gekommen ist, entdeckte Professor Tretzel,daß spottende Vögel das Vorbild nicht einfach kopieren, indem die Laut nachsingen.Einzelne Meisterspötter hatten einen Auszug, und zwar eine Kurzfassung des Finkenschlags wiedergegeben, wie sie nach Professor Tretzels Urteil „ein Mensch in Wohlüberlegter Weise kaum besser herstellen könnte“. Mit dem Klangspektrographen – einem elektronischen Gerät, das aus Klängen eine Kurvenzeichnung (Spektrogramm) herstellen, aus der Tonhöhe (Frequenz), Lautstärke und Dauer der Laute hervorgehen – war zu erkennen, daß die Vögel aus den verschiedenen Abschnitten der Finkenstrophe stets nur einzelne Elemente, aber alle wesentlichen, entnommen hatten. Sie haben den Finkenschlag damit auf etwa die Hälfte verkürzt.
Noch etwas anderes zeigte das Spektogramm: Im Mittelteil des Finkenspottmotivs waren einige Elemente in eine tiefere Tonlage gebeugt worden. Beim eigenen Artgesang wechseln Gartengrasmücken häufig Tonhöhe oder Lautform. Der Finkenschlag muß ihnen abschnittsweise zu monotonerschienen sein.
Vögel sind also fähig zu akustischer Abstraktion. Und wenn sie ein Spottmotiv nahtlos in ihre Strophen einbauen, an den Anfang oder an den Schluß setzen, dann passen sie das erlernte Lautmaterial dem Charakter ihres Gesangs an. Sie lernen nicht auf die einfachste Weise, indem sie unverändert übernehmen; sie lernen relativ.
Was würden wohl spottende Vögel mit einer Mensch-Melodie anstellen? Schon mehrfach ist behauptet worden, Gartenvögel hätten den Familienerkennungspfif oder ähnliches aus der Nachbarschaft imitiert. Professor Tretzel entdeckte kurz nacheinander die beiden einzigen bis heute exakt nachgewiesenen Fällen solcher Nachahmungen.
Offenbar gehört sehr gute Vertrautheit mit Vogelgesängen und zugleich ein musikalisches Gehör dazu, aus einem Wildvogelsang herauszuhören, daß eines der Motive nicht Originalerfindung des Vogels, sondern imitierter Menschpfidf ist. In beiden Fällen war die hartnäckige Suche des Zoologen nach den menschlichen Vorbildern der -Imitatoren erfolgreich. Die Ergebnisse der Analysen gehören zum Verblüffendsten, was auf dem Gebiet der Tierpsychologie in den letzten Jahren veröffentlicht wurde.
Auf einer Ödfläche bei Erlangen haben Haubenlerchen eine kleine Komposition aus drei gepfiffenen Hundekommandos eines Schafhirten angefertigt. Und mit einem imitierten Menschenpfiff ist bei den Amseln Garmisch-Partenkirchens eine Gesangstradition entstanden. Da die Qualität der Nachahmung mit der Entfernung von einem bestimmten Ortsteil abfiel, konnte Tretzel sich auf das Zentrum dieser Tradition einpeilen. In mitteleren Abschnitt der Mühlstraße sang eine Amsel das Motiv besonders klangvoll und tonrein. Hier forschte der Zoologe bei den Anwohnern nach und stand alsbald vor einem Haus,dessen Besitzer mit eben diesem Pfiff,  den die Amsel „zitierte“ hat und den Professor Trezel vom Band vorspielte, seine Katze ins Haus zu locken pflegte.
In seinem Labor im Zoologischen Institut der Erlanger Universität konnte Tretzel nun viele Bandaufnahmen der Schäfer- und Katzenhalterpfiffe mit den entsprechenden Imitationen vergleichen.
In beiden Fällen haben die Menschen ihre Kommandopfiffe nicht immer auf die gleiche Weise produzieren können, während die Vögel ihre Imitationen in Frequenz und Rhythmus sehr konstant wiedergaben. Zum Beispiel variierte ein Ton im Katzenkommando beim Vorbild um fast eine Oktave (d3 bis cis4), bei der Amsel in diesem Revier nur um einen Halbtonschritt. Fast deckungsgleich ließen sich die Klangspektrogramme von 28 Imitationen der drei Amseln in der Mühlstraße übereinanderlegen, zumindest ergaben sich dabei so enge Abweichungen, daß nach Tretzels Urteil „höchstens ein ausnehmend ton- und rhythmussicherer und zudem pfeifgewandter  Mensch diesen Pfiff immer in diesen Grenzen wiegerholen könnte“.
Außerdem haben die Amseln das Spottmotiv akkurat in eine höhere Tonart transponiert, mindestens um eine Quinte, gemessen an der obersten Pfeifgrenze, die der Katzenhalter bei Testaufnahmen erreichen konnte. Nach dem Höreindruck hat die Amsel die Motivgestalt des Themas richtig erfaßt. Aber in dieser Hinsicht leisteten die den Schäfer imitierenden Haubenlerchen noch Erstaunlicheres.
Über des Hirten Musikalität sagt Professor Tretzel: „Das Fehlen eines absoluten und eine nicht sonderlich feine Ausprägung des relativen Gehörs stellen (ihn) immer wieder vor Intonationsschwierigkeiten.“ Kaum zwei Spektrogramme seines längsten, aus fünf Tönen bestehendenKommandos waren identisch. Für welche Fassung entschied sich die Lerche, als sie dias Motiv aufgriff? „Sie hat zweifelslos eine Form gewählt“, schreibt der Forscher, „die unserem musikalischen Empfinden am nächsten kommt. Fast möchte man sagen: Sie hat die „Idee“, die Idealgestalt dieses Motivs erfaßt und pfiff es so, wie der Schäfer es wohl gedacht hat, aber nur selten zustandebringt. Die Lerche trug alle Schäferpfiffe außerdem viel reiner und musikalischer vor,schlanker im Ton und eleganter in der Tonfolge. Sie hat die Pfiffe gleichsam musikalisch veredelt.“Die beste der drei Nachahmerinnen im Gebiet sang das kunstvoll hergerichtete Hirtenzitat fast genau in den Tonintervallen der C-Dur-Tonart.
Eine eigene kleine kompositorische Leistung der Lerchn bestand nun darin, daß sie die drei Pfiffe des Schäfers nicht einzeln in ihre Lieder einbauten, sondern stets aneinandergereiht vortrugen. Sie haben sie niemals zusammengefaßt gehört, mindestens doch mit längeren Pausen dazwischen, denn die drei Pfiffe haben ganz verschiedene Bedeutung für den Hütehund, nähmlich „Lauf weg!“ „Lauf schnell!“ „Halt!“ und derselbe Halt-Pfiff, zwei- bis dreimal wiederholt, heißt „Komm her!“ Die Meisterspötterin entschied sich für strikte dreimalige Wiederholung und hat den einfachen „Halt“-Pfiff nie gebraucht – aus rein metrischen oder Proportionsgründen, wie Tretzel vermutet, denn dreimalig wiederholt ist er ebenso lang wie der aus fünf Klangelementen bestehende „Lauf-Weg“-Pfiff.
Schließlich war es den Lerchen offenbar keineswegs gleichgültig, wie sie das dem Hirten abgelauschte „Plagiat“ ihren Liedern einfügten. Allen „Lauf-Weg“-Pfiffen setzte die Meisterspötterin eine streng rhythmisch-metrisch gebaute Strophe voran. Mitten im Gesang leitete sie mit ein paar Lerchenlauten zu dieser Vorstophe über; am Liedanfang aber schickte sie der Vorstrophe stets drei bestimmte Klangelemente voraus. „Wenigstens auf mich“, erklärte der Forscher, „wirken die einleitenden oder überleitenden Elemente und die Vorstrophe wie eine Vorbereitung auf den folgenden, besonders elegant und melodisch vorgetragenen Schäferpfiff“, ein Geständnis, dem manche Zuhörer von Tretzels Tonbändern auf  den letzten ornithologischen Tagungen und Kongressen beipflichten mußten. Übrigens war das Schäfermotiv der belieteste Liedvers einer der Lerchen.
Generell hat dann die Analyse der Amsel-Imitation in Garmisch-Partenkirchen alle wesentlichen Erkenntnisse aus der Haubenlerchen-Untersuchung bestätigt. Auch die spottenden Amseln stellten ihre Katzenlockpfiff besonders heraus. Die den Katzenhaaus benachbarte Amsel erfand eine stufenweise zu einem Hauptton aufsteigende Lautreihe als Einleitung des Spottmotivs. Da diese Vorstrophe sich nicht aus Gesangseigentümlichkeiten der Amsel erklären läßt, hält Tretzel sie für einen „Ausdruck reiner Spielfreude“.
Die einleitende Lautkette erinnerte Professor Tretzel an einen sogenannten „Schleifer“, der zwar nicht alle Merkmale eines Schleifers im  Sinne der Musikwissenschaft aufweist, nach seinem Urteil aber im Prinzip dasselbe ist: „Eine Reihe stufenweise zu einem Hauptton aufsteigende Laute, die der Verzierung dienen.“ Mit solchen Schleifen versuchten die Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts, dem schnell verklingenden Ton der damaligen Begleitinstrumente – wie zum Beispiel dem des Cembalos – mehr Gewicht zu verleihen, indem sie diesen Ton umspielten und mehrfach wiederholten. „Durch die Ornamentik des Schleifers“, beschreibt der Zoologe die Amsel-Erfindung, „erhielt der aufsteigende Ton ähnlich wie beim Koloraturgesang nicht nur Ausschmückung, sondern auch Farbe und klangsinnlichen Reiz: Der Ton wurde ‚größer‘ und ‚eindringlicher‘.“
Mit ziemlicher Sicherheit hat sich ursprünglich nur eine Amsel den Katzenlockpfiff angeeignet. Das Motiv gefiel auch den weniger spottbegabten Nachbarn. Es war ja schon in die Amsel-Tonlage transponiert und so ahmten sie es nach, geben es an ihre Nachbarn weiter. Die Vorliebe von Spottvögeln, die schon „zurechtgesungenen“ ohrenfälligen „Attraktionen“ des Nachbarn aufzugreifen, verglichTretzel mit der Vorliebe von Menschen für fremdsprachliche oder ungewöhnliche Worte. Denn die weiter vom Mühlstraßenzentrum entfernten Amsel brachten fast sämtlich wenigstens Andeutungen des Schleifers, der reine Amselzutat ist. Doch den „Imitatoren“ der Imitation konnte der Vogelstimmenforscher zugutehalten, daß sie das „plagiierte“ Plagiat zu interessanten und musikalisch gefälligen Strophen verarbeitet hatten. Eine setzte einen Dreiklang vorweg und modulierte dann von gis-Moll nach G-Dur. „…die einfachste Modulation, richtig gesetzt, ist unbestreitbar Kunst“ – diese Formulierung Strawinskys würde ihm heute vielleicht als zu riskant erscheinen.

Zweckfreie Ästhetik
Sind Schillers Worte „Die Kunst, oh, Mensch, hast du allein“, noch berechtigt? Was unterscheidet Vogelmusik von der menschlichen Kunstmusik? Eine zeitgerechte Definition müßte wohl  so differenziert ausfallen, daß dieser Unterschied sich nicht mehr in einem Satz ausdrücken läßt. Denn daß etwa der Taktstrich eine Erfindung des Menschengeistes ist, im Vogelsang nicht enthalten, wäre als Definition zu dürftig, wenn bei Vögeln Sinn für Rhythmik, Metrik, Melodik, in ihren Gesängen Variation, Transposition, Wiederholung, Motivumkehr, Andeutung zur Zweistimmigkeit („Pseudodiplophonie“) und Kontrast zu finden sind. Ein sicheres „Gefühl“ für Kontrast beweist zum Beispiel die als Käfigvogel beliebte indische Schamadrossel, die wie im klassischen Sonatensatz kraftvollen, rhythmisch betonten Themen lyrische Motive gegenüberstellt und nach Tretzel imstande ist, über beide frei zu phantasieren.
Gewiß ist der Vogelsang stammesgeschichtlich entstanden als ein Mittel der Kommunikation mit Artgenossen. Im sogenannten „Motiv- oder Reviergesang“ herrschen bei den einzelnen Arten verschiedene Funktionen vor wie akustische Abgrenzung des Reviers, Abschreckung der Rivalen, Anlockung der Weibchen, Paarbildung und -bindung und so weiter. Aber auch in den zweckgebundenen Reviergesängen vieler Vögel treten musikalische Leistungen auf, die sich aus dem Zweck allein nicht befriedigend erklären lassen. Besonders deutlich verraten die Jugend- und Studiergesänge der einheimischen Vögel ein ästhetisches Empfinden. Ein Sonderfall ist der „Dämmerungsgesang“ des amerikanischen Waldfliegenschnäppers („Wood Pewee“), den der Pionier der  Verhaltensforschung, Professor William Craig, 1943 analysiert hat und alt „echte Kunst“, als „zweckfreie Ästhetik“ bezeichnete. Dieser Vogel ordnet seine drei verschiedenen Strophen nach der dreiteiligen Liedform der Musik, nach der etwa auch der Kinder-Evergreen „Hänschen klein“ komponiert ist.
Zur Erklärung bietet sich an, was die Kybernetiker die „Mehrleistung der Apparate“ nennen – ein Prinzip, das auch im Biologischen gilt. So wie eine Kneifzange zum Beispiel zweckgebunden geschaffen wurde, um krummgeschlagene Nägel zu entfernen, dann aber, nachdem sie einmal da war, sich vielerlei tauglich erwies – zum Einschlagen von Nägeln, zum Öffnen von Konservenbüchsen, zum Trommeln und zu Dutzenden anderer Funktionen -, so mag auch der Vogelsang zwar ursprünglich  ausschließlich zur Kommunikation entstanden, danach aber zweckentfremdet anwendbar geworden sein – vielleicht, vielleicht aus spielerischem Spaß am Schönen. Was mit dem Vogelsang vom Himmel fällt, ist Musik der Natur, aber Musik nicht in Gänsefüßchen.

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Zeichnung: Marie Marcks