Vorsommerliche Inszenierungen in der Berliner Stadtlandschaft: die Gesänge der Nachtigallen
Dietmar Todt
Die Stadtlandschaft Berlins weist viele Besonderheiten auf. Keine andere Metropole bietet ihren Bürgern und Besuchern beispielsweise baumgesäumte Straßen oder Seenketten und zum Verweilen einladende Parks in vergleichbar großer Zahl. Und dank seiner Fülle unübersehbaren Grüns, ist Berlin auch noch immer ein Eldorado für viele Arten von Vögeln. Dazu gehört neben den Staren, den Amseln und den Finken auch eine weitere Spezies: die Nachtigall. Jährlich entschließen sich etwa 1500 Nachtigallenpaare, hier ihren Sommer zu verleben. Ab Ende April sind die Lieder der Nachtigallenmännchen in fast allen Stadtbezirken zu hören: äußerst lautstark und in den ersten Maitagen sogar rund um die Uhr. Dieses Singen wird höchst virtuos gestaltet und, wo immer sich die Chance dafür bietet, als beeindruckender Sängerwettstreit inszeniert. Da all dies für eine Stadtlandschaft durchaus ungewöhnlich ist, wurde Berlin auch das Prädikat „Hauptstadt der Nachtigallen“ verliehen.
Steckbrief der Spezies
Nachtigallen sind sperlinggroße Vögel mit bräunlichem Gefieder und leicht rötlicher Schwanzpartie. Während ihr Aussehen also eher etwas unauffällig ist, liegen ihre Potenzen vor allem in „Kopf und Kehle“. Darauf deutet auch der zweite Teil ihres wissenschaftlichen Namens Luscinia megarhynchos hin. Wie das Rotkehlchen (Erithacus rubecula), die Amsel (Turdus merula), die Singdrossel (Turdus philomelos), viele andere berühmte Sänger und vor allem ihre beiden nächsten Verwandten, der Sprosser (Luscinia luscinia) und das Blaukehlchen (Luscinia svecica), gehört die Nachtigall zu den Drosselvögeln (Turdinae), die neuerdings zur Unterfamilie der Familie der Fliegenschnäpperartigen (Muscicapidae) gerechnet werden. Bevorzugte Lebensräume sind buschreiche Parkanlagen oder Laubbaumbestände mit dichtem Unterwuchs, die Zugang zu Feuchtland oder Ufern von Gewässern bieten. Das erleichtert die Nahrungssuche, die sich vor allem auf diverse Insekten konzentriert. Da Nachtigallen Bodenbrüter sind, sollten ihre Siedlungsgebiete mit Strauchschichten oder Fallaub ausgestattet sein. Häufig werden die Nester nämlich versteckt unter Efeu oder sogar im Schutze von Brennesseln angelegt, was etwaige Risiken bei der Aufzucht des Nachwuchses wesentlich mindern kann (von Blotzheim 1988).
Nachtigallen sind Zugvögel, die den Winter im südlichen Ostafrika oder im tropischen Westafrika verbringen. Die Rückkehr in ihre europäschen Brutgebiete erfolgt im April. In Berlin kann man ab dem 21. April damit rechnen. Zuerst kommen die Männchen. Sie sind standorttreu; was heißt, daß sie ihre Reviere meist dort zu gründen versuchen, wo sie bereits früher gesiedelt hatten. Die Reviergründung ist mit lautstarkem Singen verbunden. Damit wird zweierlei erreicht: zum einen werden so männliche Konkurrenten auf Distanz gehalten und zum anderen die etwas später zurückkehrenden Weibchen angelockt und zum Verweilen veranlaßt. Anfang Mai legt jedes Weibchen vier bis sechs Eier, die bis zum Schlüpfen der Jungen ungefähr zwei Wochen lang bebrütet werden müssen. Nach dem zwölften Lebenstag verlassen die Jungen das Nest, werden aber zunächst noch für zwei bis drei Wochen von ihren Eltern gefüttert und begleitet. Erst danach wagen sich die Jungen in die Welt außerhalb des elterlichen Reviers (von Blotzheim 1988). Zwischen Ende Juli und August verlassen junge und adulte Nachtigallen schließlich die Landschaften ihrer Sommersaison, um dann – meist in Etappen – wieder in die Winterquartiere zu ziehen.
Individuelle Entwicklung
Wie andere Singvögel müssen auch Nachtigallen ihre gesanglichen Künste lernen und üben. Dabei nutzen sie eine Fähigkeit, die zwar typisch für den Menschen, im Tierreich aber sehr selten ist und sich in einem selektiven Imitieren von vokalen Vorbildern zeigt. Die Grundlage dafür wird in der Regel schon im ersten Sommer gelegt. Mit dem Verlassen des elterlichen Nestes beginnt für die Jungtiere eine Entwicklungsphase, in der sie sich besonders gut und schnell alles merken können, was ihr Vater oder ihr etwaiger Pflegevater gesanglich vorträgt. Danach ruht das Gehörte mehrere Monate lang im Gedächtnis der Vögel. Im Alter von etwa einem halben Jahr wird der männliche Nachwuchs dann selbst vokal aktiv – zunächst mit ersten stimmlichen Vorversuchen, die zumeist aus amorphen Mustern bestehen. Ab Januar mischen sich in diesen Zwitschergesang („subsong“) zunehmend mehr Lautstrukturen, die den früher gehörten Vorbildern gleichen und im Zuge eifrigen Übens laufend weiter verbessert werden. Diese Entwicklung schließt erst zwischen März und April mit einem Prozeß ab, in dem der Gesang die für die erwachsenen Artgenossen typische „kristallisierte“ Form annimmt. Nachtigallen gehen dann zugleich vom zusammenhängenden Singen der Jugendzeit zum strophigen Gesang der geschlechtsreifen Individuen über.
Der Gesangserwerb der Nachtigallen gehört heute zu den besonders gut untersuchen Lernleistungen im Tierreich. Wie sich gezeigt hat, erbringen die Vögel dabei einige Teilleistungen, die bislang als Charakteristika des seriellen Lernens beim Menschen galten. Das gilt beispielsweise für die Eigenschaften des sogenannten Kurzzeit-gedächtnisses, das für die ersten Schritte des Merkvermögens wichtig ist. Dieses Gedächtnis hat nur eine begrenzte Kapazität und kann je Lernschritt nur drei bis vier, maximal sieben Lerneinheiten verarbeiten. Um etwas optimal einspeichern zu können, sollten wir Menschen daher unsere Lernmengen entsprechend strukturieren. Die Nachtigal-len haben dieses Problem auf erstaunlich einfache Weise gelöst. Die erwachsenen Vögel gliedern ihren Gesang in spezielle artspezifische Muster, die Strophen, und diese stellen für das Kurzzeitgedächtnis der Jungen offenbar optimale Lerneinheiten dar. Jeweils drei bis vier, maximal sieben solcher Strophen, die ein Jungvogel nacheinander hört, merkt er sich und speichert sie als sogenanntes „Strophen-Package“ ab. Letzteres geschieht so schnell, daß sein Kurzzeitgedächtnis sofort wieder frei wird und für die Bildung des nächsten „Package“ zur Verfügung steht (Hultsch/Todt 2004, 135-136). Im Hinblick auf solche Lerneffizienz scheinen uns die Nachtigallen durchaus überlegen zu sein.
Gesangliche Organisation und Dynamik
Die artliche Mannigfaltigkeit der Vogelstimmen ist herausragend groß. Gleichwohl gibt es eine Reihe interessanter und wichtiger Gemeinsamkeiten unter den Arten. Weit verbreitet sind beispielsweise einige Grundregeln, die sich dem, der richtig zu lauschen versteht, schon beim Zuhören offenbaren. Sie hängen mit einem regelmäßigen Wechsel von Lautsequenzen, die meist nur wenige Sekunden dauern, und etwa gleich langen stillen Pausen zusammen. Solche Lautsequenzen heißen „Strophen“. Deren akustische Struktur ist so ausgeklügelt, daß bereits eine einzelne Strophe die Artzugehörigkeit eines Sängers verrät. Weitere Informationen können meist durch zusätzliche Auswertung der Gesangsdynamik gewonnen werden, die in der Aufeinanderfolge mehrerer Strophen verschlüsselt ist.
Außer in der Strophenstruktur unterscheiden sich die Vogelarten auch im Umfang ihrer gesanglichen Repertoires sowie in ihrem Vortragsstil. Arten, die wie Buchfinken (Fringilla coelebs) nur wenige verschiedene Strophentypen beherrschen, haben einen repetitiven Gesangsstil; das heißt, sie wiederholen jeden Strophentyp mehrfach, bevor sie zu einem anderen Typ übergehen. Nachtigallen und Amseln, die sich durch große Repertoires auszeichnen, singen dagegen abwechslungsreich und ohne viele Strophentypwiederholungen. Das trifft insbesondere für die nächtlichen Gesänge der Nachtigallen zu (Todt 1971). Dann werden je Stunde ca. 400 Einzelstrophen intoniert, was einen recht zügigen Überblick über das aus ca. 200 verschiedenen Strophentypen bestehende Gesamtrepertoire ermöglicht. Dies und die Besonderheit, daß einige ihrer Strophen langgezogene „Pfeifelemente“ aufweisen, die in variierter Dynamik vorgetragen werden und bei nächtlichen Spaziergängern offenbar romantische Gefühle hervorrufen können, haben die Nachti-gall auch in der Poesie und in anderen Künsten berühmt gemacht.
Für die Wissenschaft sind die Nachtigallen verständlicherweise aus anderen Gründen zu einem wichtigen Modellvogel geworden. Dazu gehört, neben der Größe ihres Repertoires und der Möglichkeit, aus dessen Vortrag interessante Rückschlüsse auf die Arbeitsweise ihres erstaunlichen Gesangsgedächtnisses zu ziehen, auch die kaum übertroffene Präzision, mit der die Nachtigallen ihre verschiedenen Strophen artikulieren. Letztere hat dazu eingeladen, die verschiedenen Typen von Strukturelementen der einzelnen Strophen genauer unter die Lupe zu nehmen. Solche Elemente werden anhand ihrer akustischen Parameter typisiert und dann auf die Regeln ihrer Kombinatorik (Syntax) hin untersucht. Wie sich dabei zeigt, weist eine typische Nachtigallstrophe vier Abschnitte auf (Hultsch 1980). Der einleitende a-Abschnitt besteht aus bis zu drei sehr leisen Initialelementen von kurzer Dauer. Ihm folgt der variable b-Abschnitt mit bis zu zwölf lauteren Elementen, die nur bei den Pfeifstrophen, ansonsten aber eher nicht, repetiert werden. Im sich anschließenden g-Abschnitt sind rhythmische Wiederholungen der Elementtypen dagegen vorherrschend, was den typischen „Nachtigallenschlag“ begründet. Der w-Abschnitt besteht nur aus ein oder zwei nicht repetierten Elementen und markiert den Abschluß einer Strophe. Sein Informationswert ist geringer als jener der vorangegangenen Abschnitte. Statt dessen spielt er die Rolle eines „Over“, das einem anderen Sänger signalisiert, wann dieser mit den Einsatz einer Strophe beginnen sollte. Ob und wie ein etwaiger Interaktionspartner dann reagiert, wird in der Regel während der sich an jede Strophen anschließenden stillen Pause überprüft.
Gesanglicher Wettstreit
Die gesanglichen Interaktionen der Vögel haben vielerlei Gestalt. Am bekanntesten sind die morgendlichen Chorusgesänge. Sie finden bei verschiedenen Arten zu unterschiedlichen Tageszeiten statt („Vogeluhr“) und erreichen ihre eindrucksvolle Charakteristik dadurch, daß sich dabei nahezu alle territorialen Männchen der gleichen Art gemeinsam der vokalen Selbstdarstellung widmen. Bei den Nachtigal-len beginnt das Chorussingen etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang (Hultsch/Todt 1982). Nicht weniger beeindruckend sind gesangliche Duelle, die sich nur zwischen zwei oder drei Nachbarn abspielen. Das gilt vor allem für Amseln und Nachtigallen, denen man schon mit unbewaffnetem Ohr viele interessante Details ablauschen kann. Die Hinweise lassen sich zum einen aus den zeitspezifischen und zum anderen aus den musterspezifischen Beziehungen zwischen den Strophen der Sänger ableiten. Die zeitliche Grundregel ist, daß jeder Vogel dem jeweils anderen zuhört und erst dann selbst singt, wenn der andere seine Strophe beendet hat. Soll der Nachbar herausgefordert werden, dann wartet man jedoch nicht lange ab, sondern fällt dem anderen kurzerhand „in die Strophe“. Die daraus resultierenden Strophenüberlappungen signalisieren eine gesangliche Attacke. Sie sind typischer Bestandteil des Kontersingens und treten gehäuft zu Beginn der territorialen Auseinandersetzungen auf. Diese zeitlichen Reaktionsformen werden nicht nur von den Kontrahenten selbst genutzt und beachtet. Vielmehr können sie auch von zuhörenden Artgenossen, insbesondere den weiblichen, erkannt und bewertet werden.
Die bekannteste musterspezifische Interaktionsform ist das sogenannte „vokale Matching“. Hierbei reagiert einer der Vögel auf die Strophe eines anderen mit einer Antwortstrophe, die der gehörten Strophe dem Muster nach möglichst ähnlich ist. Das kann im Extremfall wie eine Art Echo klingen und läßt sich daher auch vom Menschen leicht feststellen. Das „Matching“ dient vorrangig dazu, den Nachbarn zu adressieren. Wenn es mit überlappendem Singen verbunden ist, verstärkt es da-durch dessen agonistische Botschaft. In Verbindung mit einem Antworten, das leicht verzögert in die Zwischenstrophenpausen des Nachbarn plaziert ist, übernimmt das „Matching“ dagegen die Rolle eines „vokalen Grüßens“. Dieses tritt bevorzugt erst dann auf, wenn sich die Nachbarn besser kennen, die territoriale Situation entspannter geworden ist und sich daher ein gelassen wirkender Gesangsstil etabliert hat (Hultsch/Todt 1995, 180-181).
Die skizzierten Leistungen spiegeln Anpassungen wider, die die Vögel im Zuge der Evolution ihrer gesanglichen Interaktionsformen ausgebildet haben. Die am weitesten verbreiteten Anpassungen zeigen sich in dem regelmäßigen Wechsel zwischen Singen und Hinhören sowie in der Ausbildung von Strophenmerkmalen, die diese Signale zu optimalen Einheiten des Informationsaustausches macht. So entspricht zum Beispiel die Dauer der Strophen mit einem Durchschnittswert von ca. drei Sekunden der Dauer eines guten Satzes der menschlichen Sprache. Dies ist lang genug, um wichtige Hinweise zu übermitteln, zugleich aber nicht so lang, daß ein Wechsel der Interaktionsrollen gestört werden könnte. Bei manchen Vögeln, allen voran den Nachtigallen, liegt eine zusätzliche Anpassung in der Ausbildung eines herausragenden Gedächtnisses. Dieses macht es dem Sänger möglich, sich sowohl außerordentlich zahlreiche Strophentypen zu merken als auch, sie höchst zweckdienlich wieder abzurufen. Erst dadurch ist die Nachtigall in der Lage, ihre zeit- und musterspezifischen Antworten so flexibel und adäquat zu adressieren (Hultsch/Todt 2004).
Ausblick
Man hat oft gefragt, ob und inwieweit der Vogelgesang und speziell die musterreichen Gesänge der Nachtigallen mit unserer Sprache verglichen werden können. Versuche, die Frage zu beantworten, sind bislang eher enttäuschend verlaufen. Statt dessen spricht vieles dafür, daß es sich beim Singen der Vögel um eine Verhaltensleistung handelt, die als eigene Ausdrucksform anerkannt werden sollte. Gleichwohl könnte es sich lohnen zu fragen, was der Gesang der Vögel vielleicht mit unserer Musik gemeinsam hat. Jedenfalls wird neuerdings durchaus untersucht, welche ästhetischen Elemente und Regeln sich in den Liedern der Vögel versteckt halten könnten. All dies kann allerdings kaum überraschen, wenn man weiß, daß der Vogelgesang heute zu den Schwerpunktthe-men verhaltens- und neurobiologischer Forschung gehört. Auch wenn es dadurch gelingen sollte, viele der zur Zeit noch im Dunkeln liegenden Aspekte aufzuhellen, wird dies die Faszination kaum mindern, die zwischen April und Juni – und jedes Jahr aufs Neue – von den gesanglichen Inszenierungen der Berliner Nachtigallen ausgeht.
Literatur
Blotzheim, U. G. von (1988): Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Wiesbaden 1988.
Hultsch, H. (1980): Beziehungen zwischen Struktur, zeitlicher Variabilität und sozialem Einsatz des Gesangs der Nachtigall (Luscinia megarhynchos). Dissertation, FU-Berlin.
Hultsch, H. und Todt, D. (1982): Temporal performance roles during vocal interactions in nightingales, in: Behavioural Ecology and Sociobiology 11, 253-260.
Hultsch, H. und Todt, D. (1995): Dialoge in der Natur, in: Der Dialogbegriff am Ende des 20. Jahrhunderts, hrsg. von E. Hasselberg, L. Martienssen und F. Radtke, Berlin: Hegel-Institut.
Hultsch, H. und Todt, D. (2004): Learning to Sing, in: Nature’s Music, ed. by P. Marler and H. Slabbelkoom, New York: Academic Press.
Todt, D. (1971): Äquivalente und konvalente gesangliche Reaktionen einer extrem regelmäßig singenden Nachtigall, in: Zeitschrift für vergleichende Physiologie 71, 262-285.