Die Mauersegler der Descalzos (Ausschnitte) Madrid, 16. VII. 03
Rudolf zur Lippe
Die große Entdeckung dieser zehn Tage ereignet sich zu den Morgen- und Abendstunden vieler, nicht aller Tage auf der Terrasse, nicht weit von der Porta del Sol und dem Teatro Real auf der anderen Seite. Als ich beim ersten Aufwachen hinaustrat, fand ich meinen Platz für die Arbeit am Manuskript am Boden des schmalen Gevierts, an eine der Seitenwände gelehnt, die höher sind als eine gewöhnliche Brüstung, um im Blick nach oben einen Ausschnitt des tiefblauen Himmels zu zeigen wie eine Bühne von unendlicher Tiefe über mir, im Portal des weiß getünchten Guckkastens. Ich war erst gegen acht im Freien, und so hatten die Vögel längst von den Lüften Besitz ergriffen. Ein auch nach Tagen aufmerksamster Beobachtung unbeschreibliches Schauspiel.
Eben noch deutlich zu erkennen, zogen Vögel ihre Bahnen in den Himmel. Irgendwie individuell und auch in ihrer Gemeinschaft zugleich. Miteinander, umeinander, gegeneinander. Aber dies Mit und Um und Gegen selber läßt sich so wenig schildern, wie es doch nicht aus Intentionen entsteht und nicht von Zielen her zu fassen ist. Eine Vorstellung bleibt ganz allgemein. Gewöhnlich fällt den Leuten der modernen Gesellschaften nur das Durcheinander ein, das, gemessen am allgegenwärtigen Modell des Mechanismus, als ein heilloses erscheinen muß. Neuerdings wird das Wort kreativ gelegentlich für Vergleichbares verwendet. Aber das besagt nur etwas darüber, wie vollständig vage die Vorstellung vom Kreativen sind. Der Begriff Chaos taucht auf. Aber er ist genauso mit Vorurteilen beladen, negativen wie auch einmal dem positiven, daß Chaos die einzige Unordnung sei, aus der eine neue Ordnung, wie Novalis es sah, ein Stern geboren werden kann, für Nietzsche. Solche Erklärungsversuche drängen sich erst im späteren Nachdenken auf. Der Versuch, den Vögeln auf ihren Bahnen in solch unfaßlicher Gleichzeitigkeit zu folgen, nimmt im Augenblick alle Einbildungskraft gefangen.
Denn viele sind sie und die schnellsten, in aller Richtung wendigsten – Mauersegler zu Duzenden. Ich bemühe mich, wenigstens mehreren im gleichen Augenblick zu folgen. Dem kommt entgegen, daß immer einige einander zu begleiten scheinen, andere ihnen entgegenkommen. Richtungen fangen, an sich in dem Bewegungsbild zu zeigen. Das könnte eine Ordnung verraten, wenn auch eine um so viele weitere Bahnen und deren so fragliche Richtungen komplexere, als ich meine denken zu können. Und da bin ich auch schon in der ersten Falle zu glauben, wirkliche Komplexität ließe so sich denken; so heißt, in dem ich Richtungen und Intentionen und damit Ziele in sie hineinprojiziere und damit zum Mechanismus zurückkehre in der Einbildung, ihn verstecken zu können in der Vielzahl der längst wieder als einzelne gefaßten Bewegungen. Auch die Bewegungen sind, als solches Geschehen in eben diesem Augenblick zur Strecke gebracht, auf die von mir gedachte Strecke abgebildet von hier nach dort. Sheldrakes Idee von einem morphogenetischen Feld ist solch ein Gedanke. Ein Vogel, ein Fisch im Schwarm wird zum Ausgangsimpuls, den alle anderen aufnehmen. Also eine Ursache, an einem Punkt, und eine Wirkung, in vielen aufeinander zu beziehenden Varianten. Anders als in einem Gravitationsfeld nach den Regeln von Newton ist daran letztlich doch nur, daß die Übertragung in einer Stofflichkeit sich vollzieht, die sich unseren avanciertesten Feststellungsmethoden entzieht. Nein, auch das nicht mehr, seit die Millionstelsekundenaufnahmen die Abfolge fotographisch erfassen, ist der erste Schritt zur klassischen Erklärung gemacht: Messungen auf Zeitleisten sind möglich geworden. Die Jagdsaison auf Transmitter ist eröffnet.
Während ich noch über das Denken grübele, das da versagt, aber desto frohgemuter zuschlägt, sagt Adrienne, vielleicht folgen die Spiralen den thermischen Wirbeln der Luft. Ja, ich habe an dem Phänomen, das mich ganz in seinen Bann zieht, meinen eigenen Naturgesetzsatz vergessen: In der Natur gibt es keine Aktionen, nur Reaktionen. Immer ist schon eine Situation von mannigfaltigen Seiten her bestimmt, so daß alles Verhalten, aus Absichten, aus Wünschen oder gänzlich hingegeben eben auch antwortet auf alles schon Wahrzunehmende. Die einen auf dies, die anderen auf anderes. Nicht, was die Vögel wollen, ist die Frage, sondern das ärgerlich erbarmungslose Wozu der Verhaltensfor-scher. Schnappen sich so leichter die Insekten? Aufregende Parallelen zwischen dem Jagdverhalten von Vögeln und von bisonjagenden Indianerstämmen werden entdeckt. Nicht welche Wünsche wir ihnen unterstellen dürfen, die eigentlich Übertragungen der unseren wären, steht zu ergründen – „wenn ich ein Vöglein wär, ich flög zu dir…“
Wirkungsgeschichte
Der Begriff stammt von Gadamer und weist darauf hin, dass in Wirklichkeit jede Erscheinung sich ergibt, indem verschiedene Geschichten sich ineinander schieben. Was geschieht, lässt sich nie mehr säuberlich zurückberechnen auf die Momente, die dazu beigetragen haben, dass es und dass es so geschieht.
An die Mauersegler denke ich das nächste Mal, da ich im Konzert sitze. Ligetis „San Francsisco Polyphonia“. Mit hundert Stimmen ist plötzlich die Geste wieder da, die den Himmel erfüllt von meinem Balkon bis in die Tiefen des Blaus, wo es blass wird unter der Sonne des späten morgens. In diesem Stück, im Hineinlauschen in dieses Stück ist mir alles gegenwärtig, was Christian und ich unserer musik-ästhetischen Kladde anvertrauen. Neue Musik. Keine Entwicklung mehr, kein Kontrast mehr um des Kontrastes willen. Auftauchende Klänge, zu einander gesetzt. Eigentlich kein Nacheinander mehr, sondern eine Abfolge in der unmöglichen Gleichzeitigkeit. Ohne Zweifel, Musik ist menschliche Gestalt, und diese muss der ablaufenden Zeit anvertraut werden. Aber sie weigert sich, die Fiktion mitzumachen und auch noch zu bestätigen, nach der das Erklingen gerade jetzt und zuvor und später die Zeitleiste verherrlichen sollte. Die Klänge leisten solcher Klassifikation Widerstand. Wir können das, freilich menschlich deutend, setzend, Entfaltung nennen – statt Entwicklung. Das Nacheinander geht auf das Konto unserer Trennung von Wahrnehmung und Erinnerung und des Kommenden, dessen wir gewärtig sind, ohne es erwarten zu können. Die Bewertung entfällt, mit der das nun Kommende am schon Gekommenen gemessen wird. Jedenfalls fordert, was ich höre, mich auf, solche Bewertungen zu vergessen. Und das gelingt. Was in den Geigen und dort herüber von den Celli erklingt, führt mich so in eine Spannung, wie sie diese Orchestrierung zu derjenigen bildet, die ihr nun mit den Bläsern entgegengesetzt wird. Zusammenklang des jetzt laut Werdenden mit dem Nachklingenden und dem Vorgemahnten, wohltuend in die Zeit gelegt hier und dann und dann – dergestalt ein zeitlos Ganzes unserer Zeitlichkeit anvertrauend im Vertrauen darauf, dass wir nicht auseinanderdividieren, was die Vögel über unseren Köpfen vollziehen im Widerspiel mit denen der fernsten Himmelstiefen.
Zwei Monate später bebt die Luft über der Mitte von Berlin zu Zeiten in den wehenden Bändern schwirrender Starenvölker. Sie ziehen sich fast zu grauen Wolken zusammen, über dem Dom oder den Kränen bei der Charité. Dann dehnen sie sich in schwingende Schleifen durch die ganze Weite des Blicks. Immer verdichtet sich das Miteinander der unzählbaren Bewegungen, hier und wieder Da. Das Band verbreitet sich zwischen den Streckungen und Dehnungen, die in der Spannung zwischen dem vor ihnen und hinter ihnen kaum ihre Schwingungen auszuführen vermögen. Das Band, so der Horizont nachahmend, vor dem es sich uns nahe ausspannt und hinzieht. Es verbreitet sich, ohne dass merklich der große Schwung ins Stocken geriete, und die Vögel, die eben hier umeinander drängen, schließen sich wieder den Vorausfliegenden an, ohne dass die Beschleunigung mehr wäre als eine Drehung im Walzer, bei der der große Zug über den Stadthimmel hinweg in Schwingungen zu seinen Seiten sich verzögert. Hier einen Besuch des Platzes neben der Alten Wache andeutend mit seinen jungen Bäumen, da wie ein sich Niederlassen auf den Dächern der Oranienstrasse, das sich ganz rasch auffängt und in diesem Schwung hinauf und in die Ferne geht. Und immer scheren einige Vögel aus zu einer kleinen heiteren Luftnummer, die nun doch nichts mit der großen Bewegung zu tun hat, als ihr gerade einmal ein wenig zu widersprechen.
Ja, ich weiß, das alles wird als Übungsflug für die Winterwanderung in den Süden verbucht. Zugvögel eben. Und geschieht dies hier darum weniger jetzt? Im Leben ereignet sich Gegenwart als Entfaltung, sehr ungleich gelingend und verhindert, aber doch nicht als „um-zu“ wie in den Spatzenhirnen der Behavioristen. Ganz diese Gegenwart auszuloten mit Ihnen Gefahren und Reizen, das ist die Übung. Als Übung leitet es über in weitere Gegenwarten und wird sie der Geschichte vergangener Gegenwarten verbinden im Fortwirken des Geübten.
Mehr braucht von Kunst nicht gesagt werden zu können. Adorno hat das ausgesprochen. In den Werken sei Trost nicht durch das, was sie zu sagen haben, sondern darin, dass sie den Widrigkeiten des falschen Lebens abgerungen werden konnten. So auch die Mauersegler. Der Zug der Vögel hält sich freilich nicht bei Bewertungen In widrig und angenehm auf. Im Fluge antworten sie, allein, zu einigen, in Schwärmen und Völkern Lied oder großes Orchester.
2010 erschienen in:
Das Denken zum Tanzen bringen
Philosophie des Wandels und der Bewegung
Verlag Karl Alber Freiburg