Hörprozesse im Gehirn des Staren

Hans-Joachim Leppelsack

Unter Hörphysiologen gilt es als eine Binsenweisheit, daß der Hörvorgang im Gehirn und nicht im Ohr stattfindet. Dieses gilt für Säugetiere genauso wie für Vögel und auch für andere Wirbeltiere. Wenn wir uns die Verarbeitungsmechanismen des Staren anschauen wollen, gilt zunächst zu klären, an welchen Orten im Gehirn solche Hörprozesse nachzuweisen sind. Die anatomischen Verbindungen wurden von verschiedenen Arbeitsgruppen aufgeklärt (Karten 1968). In Abbildung 1 sind die Verarbeitungszentren der Hörbahn eines Staren als ausgefüllte Areale dargestellt. Es ist bemerkenswert, daß in jedem Gehirnabschnitt ein eigenes Zentrum für die inhaltliche Analyse des Gehörs anzutreffen ist. In diesen findet Schritt für Schritt eine fortschreitende Verarbeitung statt, die in den Zentren des Vorderhirns ihren Höhepunkt findet.

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Abb. 1:  Die wesentlichen Zentren und deren Verbindungen der Hörbahn (gefüllt) und der Gesangsbahn (strichelt) im Gehirn eines Singvogels.

Im Vorderhirn, im Bereich des Feld-L-Komplexes, findet sich eine Reihe von Zentren, die offensichtlich gemeinsam die Höranalyse durchführen (Häusler 1989). Durch neurophysiologische Ableittechnik in Verbindung mit statistischen Programmen zur Flächenanalyse gelingt es uns, die zeitlichen Abläufe der Reaktionsausbreitung in den verschiedenen Zentren darzustellen. Die Reaktionen basieren auf Aktionspotentialen einzelner Zellen im Gehirn von wachen Staren. Daraus resultieren Reaktionskarten mit einer räumlichen Genauigkeit von etwa 30 µm (dem Durchmesser einer Nervenzelle mitsamt ihren Fortsätzen) und einer Zeitauflösung von 1 ms (= Dauer eines Aktionspotentials, der prinzipiellen Informationsform von Nerven-zellen) (Häusler 1989).

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Abb. 2: Die Ausbreitung einer Reaktionswolke auf einen Reintonreiz von 1 kHz in den Hörzentren im Vorderhirn des Staren. Das Schema links oben gibt die Lage der Frontalansicht im Starenhirn wieder. Daneben ist die Abgrenzung der verschiedenen Hörareale dargestellt. Die folgenden Karten zeigen die Ausbreitung von Erregungswolken in Abschnitten von jeweils 20 ms. Die letzte Karte zeigt die Erregung nach Reizende.

In Abbildung 2 sind in Reaktionskarten sieben Hörareale dargestellt, in denen gleichzeitig eine Analyse des Reizes stattfindet. Als Reiz diente hier ein Ton von 1 kHz. Besonders auffällig sind die Reaktionen in den Arealen NA2b und NA-L. Dabei ist festzustellen, daß die Reaktion in NA2b nur in der ersten Karte auftritt, während NA-L während des gesamten Reizes aktiv ist. Am Reizende zeigt sich wiederum Aktivität in NA2b, NA-L ist zu dieser Zeit in seiner gesamten Aktivität gehemmt. Hier haben wir ein Beispiel dafür, daß Zentren auftreten, die den Reiz in seinem Verlauf abbilden (NA-L), neben anderen, die nur kurzfristige Änderungen im Reiz beantworten (NA2b) (Capsius/Leppelsack 1998). Es ist deutlich, daß die fortlaufend aktiven Areale die Frequenzen analysieren, während die kurzfristig aktiven Areale für die Analyse von zeitlichen Ereignissen zuständig sind (Capsius/Leppelsack 1999). Übertragen auf die menschliche Sprache entsprächen diese Unterschiede den Merkmalen von Vokalen und Konsonanten. In einem wei-teren Analyseschritt (Leppelsack 1992) läßt sich der zeitliche Verlauf der Größe einer Reaktionswolke in einzelnen Gebieten in Abhängigkeit vom Reiz darstellen (Abbildung 3). Hierzu wird der Inhalt einzelner Zeitabschnitte als Säule in ein Histogramm eingetragen.

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03_3NA-L
03_4
NA2a
03_5NA2b
03_6NA3
03_7
Abb. 3: Reaktions-Flächen-Ausdehnungs-Histogramm für einen Reizzeitraum von 1120 ms Dauer. Schraffuren in Reaktionsflächen und Histogrammen entsprechen einander. Der Reiz ist ein Ausschnitt aus dem Starengesang, dargestellt als Sonagramm (unten) und Oszillogramm (darüber). Die Reaktionsflächen sind skaliert in % der gesamten Gebietsfläche. Daten von bis zu zwölf Tieren sind in einem Histogramm zusammengefaßt.

Hier wird prinzipiell deutlich, was die Reaktionswolken in Abbildung. 2 andeuten. Die Areale NA-L und NA3 bilden den Reiz in seinem zeitlichen Verlauf ab. Die Areale NA2b und NA2c zeigen nur dann große Reaktionswolken, wenn plötzliche Änderungen im Reiz auftreten. Dabei hebt NA2c auch schwache Ereignisse stark hervor. Diese zeitlichen Eigenarten bleiben erhalten, obwohl die Daten von mehreren Tieren zusammengefaßt wurden. Obwohl wir bisher die Grundsätze der Reizanalyse durch Gehirne nicht verstehen, gewinnen wir hier einen Eindruck davon, welche Prozesse ablaufen und daß eine beträchtliche Arbeitsteilung in verschiedenen funktionell spezialisierten Gebieten abläuft.

Dank:  Ich bedanke mich bei meiner Frau Dr. Elke Leppelsack für die Bereitstellung der Reaktionsgraphiken.

Literatur
Capsius, B. und Leppelsack, H.-J. (1998): The Analysis of Frequency Information in the Field-L-Complex of the European Starling (Sturnus vulgaris, L.), in: Göttingen Neurobiology Report 1998, Vol. II, hrsg. von N. Elsner u.a., Stuttgart: Thieme, 319.
Capsius, B. und Leppelsack, H.-J. (1999): Response patterns and their relationship to frequency analysis in auditory forebrain centers of a song bird, in: Hearing Res. 13, 691-699.
Häusler, U. (1989): Die strukturelle und funktionelle Organisation der Hörbahn im caudalen Vorderhirn des Staren (Sturnus vulgaris, L.). Dissertation am Institut für Zoologie Technische Universität München.
Karten, H. (1968): The ascending auditory pathway in the pigeon (Columba livia), in: Brain Research 11, 134-153.
Leppelsack, E. H. (1992): Eine Kartierung auditorischer Antwortareale im caudalen Vorderhirn des Staren (Sturnus vulgaris) unter Verwendung von Reintönen, arteigenen Lauten und anderen akustischen Modellen. Dissertation am Institut für Zoologie Technische Universität München.