Vogelstimmen – Vogel-Musik(en)?
Rudolf Frisius
aus: Peter Fuchs Unser Musikbuch für die Grundschule
Abb. 1: Kuckucksruf (Aufnahme)
Kuckucksruf (Liedanfang: 1. Motiv)
Eine Graphik mit zwei Zeichen – eine Notation mit zwei (textierten) Noten: Was haben diese beiden Abbildungen miteinander gemein?
Beide Abbildungen sollen Abbildungen von Kuckucksrufen sein: Die erste kann auf dem Bildschirm eines Computers erscheinen, wenn dieser einen aufgenommenen Kuckucksruf reproduziert: als graphische Darstellung eines Hörereignisses. Die zweite kann man in Liederbüchern finden: als Beginn eines einfachen Musikstückes.
Ein Ton – ein etwas tieferer Ton – eine Pause: So einfach klingt im Kinderlied der von Menschen nachgeahmte Kuckucksruf. Zwei Töne und eine Pause, das ist alles. Wenn der Kuckuck länger zu Wort kommen soll, wird sein Ruf einfach wiederholt. Damit ist der Anfang der Melodie gefunden: das Hauptmotiv und seine tongetreue Wiederkehr. (Das Kuckuckslied ist insoweit nicht anders gebaut als ein wohlbekann-tes Weihnachtslied: „Stille Nacht…“.) Die monotone Melodie präsentiert sich hier als Abbild monotonen Vogelgesanges.
Abb. 2: 3 Kuckucksrufe (Aufnahme)
1. Ruf 2. Ruf 3. Ruf
Ein natürlicher Kuckucksruf – ein weiterer – ein dritter: Die Rufe und ihre graphischen Abbilder sind einander recht ähnlich. Interessant ist allerdings, daß sie in unterschiedlichen Abständen aufeinander folgen.
Kuckucksrufe wiederholen sich oft nicht nur in der nachahmenden Musik des Menschen, sondern auch in der Natur selbst. Je öfter sie erklingen, desto gründlicher kann man prüfen, ob sie sich wirklich genau, vollkommen unverändert wiederholen. Der Höreindruck und, präziser noch, das Computer-Sonagramm des aufgenommenen Hörereignisses (Abbildung 2) können Zweifel daran wecken. Schon beim Studium von drei Rufen kann deutlich auffallen, daß sie nicht in gleichen Abständen aufeinander folgen, daß beispielsweise die Pause zwischen den ersten beiden kleiner ist als die Pause zwischen dem zweiten und dritten. Solche Unterschiede gibt es auch in Musik mit nachgeahmten Vogelrufen, z.B. in der Kuckucks-Musik im Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns (Abb. 3): der Kuckuck im Wald, nachgeahmt von einer Klarinette in Begleitung von zwei Klavieren. Die Pausen wechseln, aber die Kuckucks-Terz bleibt immer gleich. (Es ist übrigens, anders als im deutschen Kinderlied, keine kleine Terz, sondern eine große. Man kann sich fragen, ob das eine oder das andere oder keines von beidem richtig ist.) Nur die Klavierakkorde ändern sich: das musikalische Abbild des Waldes mit wechselnden Dreiklängen, wobei der Kuckucksruf anfangs einfach in Dur harmonisiert wird, später in komplizierterer Weise: gleichsam schwebend, auf einem vagierenden Akkord im Sinne Arnold Schönbergs, einem übermäßigen Dreiklang.
Abb. 3: Kuckucksmusik (C. Saint-Saens: Le Carnaval des Animaux)
Monotone Vogelrufe in einem fortwährend sich verändernden akusti-schen Kontext: Dies gibt es nicht nur in von Menschen komponierten Vogelmusiken, sondern auch in der Natur. Im rein akustischen Kontext wird dies dann am deutlichsten, wenn man Aufnahmen mit Kuckucks-rufen abhört und/oder ihre graphischen Darstellungen ansieht (z.B. Abbildung 2): Naturaufnahmen mit einzelnen Vogelstimmen sind oft weniger „klinisch rein“ als ihre musikalischen Nachahmungen: Man hört vielleicht einzelne Vogelrufe im Vordergrund, aber man hört glichzeitig auch viele und vielfältig wechselnde andere Vogelstimmen im Hintergrund.
Vogelmusik, in der mehreres gleichzeitig erklingt – vielschichtige und vielstimmige Menschenmusik: beides ist denkbar unterschiedlich, aber andererseits auch in mancherlei Hinsicht vergleichbar. Wie solche Vergleiche ausfallen, kann von vielen höchst unterschiedlichen Umständen abhängen – nicht nur von den Vogelstimmen und ihren Konstellationen, sondern z.B. auch von konkreten musiksprachlichen Gegebenheiten. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn man Vogelmusiken unterschiedlicher Genres und aus unterschiedlichen Genres miteinander vergleicht (z.B. Abbildung 1-7).
Abb. 4: Mittelalterlicher Sommerkanon: „Summer is icumen in“
Ein vierstimmiger Sommerkanon mit zweistimmiger Ostinatobeglei-tung aus dem 13. Jahrhundert: Besungen wird der Kuckuck, an markanter Stelle sogar mit einer (kleinen) Kuckucks-Terz, die gleichsam als Extrakt der ersten Melodietakte erscheint: Die Terz ist eingebettet in Dreiklang und Tonleiter.
Abb.5: Mittelalterlicher Sommerkanon (melodisch-polyphone Struktur)
Vogelmusik und Menschenmusik haben gemeinsame, aber auch durch- aus unterschiedliche Zonen. Dies wird im Sommerkanon dadurch deutlich, daß der Kuckuck manchmal in tonmalerisch deutbaren Terzen in Musik gesetzt wird, manchmal aber auch in durchaus menschenspezifischen Tonleiterschritten. Erst in späteren Zeiten gab es Versuche, Vogellaute und musikalische Strukturen noch enger zu integrieren, beispielsweise motivisch verarbeitete Kuckucksrufe bei Antonio Vivaldi (Die Jahreszeiten: „Der Sommer“, I. Satz) und später, noch deutlicher profiliert, bei Gustav Mahler (1. Symphonie).
Abb.5a: Quartenmotive – Kuckucksrufe in Quarten (G. Maler: 1. Symphonie, 1. Satz)
Von ganz anderer Art ist ein Versuch mehrschichtiger Vogelstimmen Musik bei Beethoven: Am Schluß des II. Satzes seiner 6. Symphonie integriert er Vogelrufe nicht nur in musikalische Strukturen (in einen B-Dur-Dreiklang in einfacher taktrhythmischer Periodisierung), sondern auch ineinander: in eine komponierte Vogelstimmen-Collage mit Nachtigall, Wachtel und Kuckuck, die sich in der Collagierung realer Vogelstimmen-Fragmente nachstellen läßt.
Abb. 6: Instrumental collagierte Vogelstimmen (Beethoven: 6. Symphonie, 2. Satz)
Abb. 7: Technisch collagierte (aufgenommenen) Vogelstimmen (entsprechend Abb. 6)
Beethoven kombiniert drei verschiedene
1. Wachtel (prägnantes Eintonmotiv mit punktiertem Rhythmus als
Melodie: Oboe, Dreiklangsterz)
2. Nachtigall (sich beschleunigender und melodisch abrundender
Quint-Triller als Mittelstimme: Flöte)
3. Kuckuck (einfaches Zweitonmotiv als Unterstimme mit Terz und
Grundton: Klarinette)
Der rhythmisch prägnante Wachtelruf markiert gleichsam eine Zwischenposition zwischen dem rhythmisch belebten Triller der Nachtigall und dem rhythmisch monotonen Kuckucksruf: Die Nachtigall erscheint als Antipode des Kuckucks, wie wir dies auch aus vielen volkstümlichen Liedertexten kennen. (Den wohl bekanntesten dieser Texte, der Kuckuck und Nachtigall dem Esel als Musikkritiker vorsingen läßt, hat Gustav Mahler vertont.) Wie stark sich der komplexe Gesang der Nachtigall vom einfachen Ruf des Kuckucks unterscheidet, läßt sich auch daran ablesen, daß dieser Gesang, anders als der Kuckucksruf, in vielen Beispielen älterer Vokalmusik oft textlich gerühmt, aber kaum prägnant musikalisch imitiert wird: Dies wäre unter den stilistischen Prämissen „Alter Musik“ sehr schwierig gewesen. Auch in späteren Epochen, selbst noch bei Beethoven, hat sich dies noch nicht grundlegend verändert: Die Imitation der Nachtigall mit einem einfachen Triller ist eine starke melodische und rhythmische Vergröberung des realen Vogelgesanges. Anders ist dies in einem symphonischen Beispiel von Gustav Mahler: Wenn im Finale seiner 2. Symphonie, als Signal der Auferweckung der Toten, eine vom Gesang der Nachtigall inspirierte Musik ertönt, dann löst die Musik sich weitgehend von tradierten melodischen und vor allem metrischen Bindungen, und sie folgt der Lebendigkeit, der melodischen und rhythmischen Flexibilität des natürlichen Vogelgesanges.
Abb. 8 Nachtigallenmusik (G. Mahler: 2. Symphonie, Finale) / Aufgenommenener Nachtigallengesang
Auch in diesem Beispiel bleiben noch letzte Reste einer Unterschei-dung zwischen Figur (Melodie: Piccoloflöte/Flöte) und Grund (Paukenwirbel) erkennbar – einer Unterscheidung, die auch in manchen späteren Vogelmusiken eine Rolle spielt, z.B. bei Olivier Messiaen in Stücken seines Klavierzyklus Catalogue des Oiseaux.
Andererseits sind auch schon bei Mahler neuere Ansätze erkennbar, die später wiederum von Messiaen und jüngeren Komponisten weiter- entwickelt worden sind: Vogelgesang erscheint nicht nur als Klangsymbol, sondern als empirisch genau wahrgenommenes und protokolliertes Klangmaterial, das Messiaen oft auch in Worten genau beschreibt, z.B. bezogen auf eine Solokadenz des Klaviers in seiner Ensemblekomposition Oiseaux exotiques: „Der virginische rote Kardi-nal ist völlig rot, rote Haube, schwarze Maske. Sehr schriller, schneller und flüssiger Gesang. Jede Strophe ist ein verschiedenes melodisches Fragment, das ziemlich kurz ist und zwei-, fünf- und selbst sieben- bis neunmal wiederholt wird.“ (siehe Abbildung 9)
Abb.9: Nachkomponierte Vogelmotive (O. Messiaen, Oiseaux exotiques, Solokadenz Anfang)
Musik aus Lauten der Nachtigall in Mahlers 2. Symphonie noch auf eine kurze Episode beschränkt ist einige Jahrzehnte später, in einer neuen musikalischen Epoche, zum Klangmaterial eines vollständigen (allerdings relativ kurzen) Stückes geworden: in einer frühen Produktion der musique concrète, in L‘Oiseau RAI von Pierre Schaeffer. Der Titel des Stückes verweist auf die Herkunft der hier verarbeiteten Klänge: auf ein Sendezeichen des italienischen Rundfunks, das seinerseits aus Lauten der Nachtigall bestand. Diese Laute werden in Schaeffers Musik, anders als in früheren Vogelmusiken, nicht mit anderen Klangquellen nachgeahmt, auch nicht in mehr oder weniger „rohen“ Aufnahmen vorgeführt, sondern tatsächlich komponiert – d.h. in kleinste Fragmente zerlegt, die dann, teilweise technisch verarbeitet (z.B. durch Rückwärtswiedergabe oder durch Transposition in Zeitlupe oder Zeitraffer, stellenweise auch durch Verhallung), wiederum zusammengesetzt und in neue Montagezusammenhänge integriert werden.
Abb.9: Nachkomponierte Vogelmotive (O. Messiaen, Oiseaux exotiques, Solokadenz Anfang)
a b c a
1…..2…..1.2 2..1……..
Schon in den ersten Sekunden werden wichtige Details der Komposition und Montagetechnik erkennbar: Auswahl kleiner Fragmente (a: 1-2) – Kontrastierung (b und c) – rückläufige Wiederkehr (a: 2-1).
Eine genauere Detail-Abbildung zeigt die typischen Merkmale des Klangmaterials: Hier zeigt die Abbildung der Musik dieselben Besonderheiten wie die Abbildung der natürlichen Vogellaute selbst des Kuckucksrufes (Abbildung 1): Es gibt keine festen Töne und Intervalle, sondern freie, oft kontinuierlich sich verändernde Konfigurationen im Tonraum in vielfältigen Facetten technischer Verarbeitung.
Abb. 11a: Transformation einer Struktur komponierter Vogellaute: rückläufige Wiederkehr des Anfangs L´Oiseau RAI (10´´-13´´)
a………………………..b……………..c…….
1………….2…………..1……2……….1.2.3
Abb. 11b: Komponierte Strukturen L´Oiseau RAI Anfang (Abschnitt I, 0´-13´´)
Abb. 11b: Komponierte Strukturen L´Oiseau RAI Anfang (Abschnitt I, 0´-13´´)
Abb. 12: Komponierte und transformierte Vogellaute (1):
L´Oiseau RAI, Abschnitt II, Anfang (Einführung von Tieftranspositionen, 13´´-19´´
Abb. 13: Komponierte und transformierte Vogellaute (2):
L´Oiseau RAI, Abschnitt II, Fortsetzung ( 19´´-36´´)
Abb. 14: Komponierte und transformierte Vogellaute (3):
L´Oiseau RAI, Abschnitt II, Schluß ( 36´´-44´´)
In der Entwicklung der Musikgeschichte hat sich das Verhältnis zwischen Vogellauten und Menschenmusik in paradoxer Weise verändert: Zunehmende Komplexität der kompositorischen Mittel eröffnete schließlich auch neue Möglichkeiten zu einer der „organischen“ Verarbeitung natürlicher Laute. Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen – ein Prozeß der dialektischen Wechselwirkung zwischen organischen und technischen Gegebenheiten.
Für die Erstellung der Computervorlagen, -graphiken und -notationen sei Michael Hermann herzlich gedankt.