Wolfgang Müller
Stare von Hjertøya singen Kurt Schwitters 2002
Audiovisuelle Installation im Hof und Fojer des Podewil
Produktion: Tilman Küntzel
Molde, Hjertøya 1. Juni 1997
Lieber Úlfur,
Gestern war die Eröffnung unserer Ausstellung im Kunstnersenter Molde. Gegenüber dem kleinen Städtchen Molde im Bezirk Møre og Romsdal liegt die Insel Hjertøya. Dort hat Kurt Schwitters mit seiner Frau Helma und Sohn Ernst von 1932 an jedes Jahr einige Sommermonate verbracht. Seinerzeit lebten da nur ein Bauer, seine Frau, ein Hund, einige Kühe, Hühner und – wie Schwitters in einem Gedicht schrieb – ein Radiogerät.
Mit einem kleinen Motorboot fuhren wir am Nachmittag hinüber, um das kleine Häuschen anzuschauen. In den Biographien wird es mal als ehemaliges Kartoffellager mit Schafstall, mal als 300-jährige Schmiede bezeichnet. Der Leiter des Fischereimuseums war so freundlich die erst seit kurzem verriegelte Tür aufzuschließen, damit wir einen Blick in das Innere werfen konnten.
Das Haus ist winzig, vielleicht zwei mal drei Meter und voller abblätternder Collagen, Inschriften und bemalter, zerbröselnder Gipssäulen. Vor ein paar Monaten konnte hier noch jeder rein. Die Tür stand immer offen. Spielende Kinder rupften die Collagen und Objekte von den Wänden. Jemand stahl den großen Holzgeist, von dem Schwitters in einem Brief aus Molde sprach. Den Rest besorgten Wind und Wetter. Die übriggebliebenen, vorhandenen Teile befinden sich in keinem Werksverzeichnis. Das ist schon erstaunlich, da sonst jede kleine, mit Collage versehene Postkarte von Schwitters im Kunstmarkt hoch gehandelt wird.
Jedenfalls konnten die Arbeiten hier so offensichtlich das werden, was Schwitters über seine Kunst sagte: „Im Merzstil wird Kunst wieder zu Material.“ Ich machte einige Fotos von der Säule, den Grotten, Collagen und Objekten und legte mich anschließend in das frisch duftende Gras neben dem Häuschen.
Da hörte ich auf einmal einen Star sonderbare Laute von sich geben. Flügelzitternd saß er auf einer Regenrinne der rot gestrichenen Scheune nebenan, die schon zu Schwitters Zeiten existierte. Obwohl die Paarungszeit doch eigentlich längst vorbei war, zwitscherte, trällerte und knarrte er aus Leibeskräften. Irgendwie kam mir das bekannt vor, was er da von sich gab. Das hatte ich schon mal gehört. Ja, mit einem Mal erkannte ich, dass der Vogel Passagen aus der Ursonate rezitierte, die ein unbekannter, ferner Vorfahr vor vielen Jahren Schwitters abgelauscht hatte und die über Generationen weiter vermittelt wurden, sozusagen von Star zu Star. Diese Vögel sind ja bekanntlich Meister der Imitation, können Hundebellen, Quietschen von Türen und das Pfeifen einer Dampflokomotive imitieren. Sie lernen den Gesang von ihren Eltern und nehmen Geräusche ihrer Umgebung auf. Hier also waren Passagen der originalen Ursonate und dadaistische Lautdichtung unbemerkt vom Kunstbetrieb überliefert worden. Zum Glück hatte ich mein Aufnahmegerät dabei. Das Tape liegt anbei.
Herzliche Grüße
Dein Wolfgang