Musik der Vögel – musikalische Elemente und Grundlagen des Vogelgesangs – Musik im Vogelgesang

Csaba Bornemisza

Den liedhaften Lautäußerungen der Vögel werden im allgemeinen zwei Grundfunktionen zugeschrieben: das Anlocken eines Partners und die Verteidigung eines Reviers. Diese Lieder enthalten bei vielen Arten neben geräuschhaften Anteilen auch periodisch-harmonische Schwingungen, also Töne, wie wir sie aus unserer Musikpraxis kennen. Die Untersuchung der Vogellieder aus musikalischer Perspektive – ein interdisziplinäres Unterfangen, das wohl im Grenzbereich zwischen Bioakustik und Musikologie anzusiedeln wäre – ergibt neben Tönen auch Strukturen und Organisationsformen, die zu den Grundlagen menschlicher Musik gehören. Da die Übereinstimmungen zwischen diesen beiden so verschiedenen akustischen Welten – der der Vögel und der der Menschen – in vielen Fällen über bloße Ähnlichkeiten hinausgehen, erscheint es angemessen, von einer einfachen „Musik“ der Vögel zu sprechen.
Fragen wir nach dem musikalischen Gehalt des Vogelgesanges, läßt sich im einzelnen feststellen (wir berücksichtigen zunächst nur die äußerlich wahrnehmbaren akustischen Erscheinungen wie Struktur und Form des erzeugten Tongebildes):

Vögel intonieren, das heißt, sie steuern kontrolliert bestimmte Frequenzen an, sind intonationskonstant, weil sie Tonhöhen über lange Zeiträume hinweg konstant halten können. Sie verfügen damit zusammenhängend über ein dem Menschen vergleichbar gut ausgeprägtes Gehör.

• Viele Spezies besitzen die Fähigkeit zu transponieren, also Tonfolgen an andere „Tonorte“ zu verlegen. Transposition kann bedingt durch äußere Reizeinflüsse, aber auch ohne jeden ersichtlichen äußeren Grund erfolgen.
• Auf der Basis des uns vertrauten (abendländischen) Tonsystems ist eine Vielzahl von Vogelgesängen versteh- und interpretierbar.
• Bedingt durch die höhere Wahrnehmungsleistung erfolgt die Verarbeitung von Rhythmen bei Vögeln genauer als beim Menschen. Die verwendeten rhythmischen Muster sind den unseren vergleichbar.
• Änderungen in der Dynamik und im Tempo sind im Vogelgesang nachweisbar, allerdings sind ihre Ursachen nicht eindeutig faßbar.
• Vogellieder gliedern sich in Motive und Phrasen, haben einen festgesetzten Bauplan. Die Tonäußerungen der Vögel besitzen eine musikalische Form. Manchmal wird ein Tongebilde abwechselnd (antiphon) oder zugleich (unisono) von zwei Individuen erzeugt. Beides wird von Ornithologen unter dem Begriff „Duettieren“ zusammengefaßt.
• Viele Vögel können zwei Töne simultan erzeugen, diese können musikalische Intervalle bilden.
• Manche Vogellieder lassen, zumindest ansatzweise, harmonische Beziehungen zwischen einzelnen Tönen erkennen.

All diese Punkte legen die Bezeichnung „Musik“ für die Lautäußerun-gen der Vögel nahe. Einschränkend ist allerdings anzumerken, daß nicht alle Vogellieder alle angeführten Eigenschaften besitzen. Die Äußerungen der meisten Singvögel erfüllen nur einige dieser Bedingungen. Auch bei den diesbezüglich „am höchsten entwickelten“ Spezies (z. B. Amsel, Einsiedlerdrossel), die den meisten Kriterien genügen, kann nicht davon ausgegangen werden, daß jedes Individuum gleich „talentiert“ ist.
Neben genetisch vererbten Grundlagen bedürfen viele Jungvögel zur Aneignung ihres Artgesanges auch eines Vorbildes. Sie erlernen den Gesang vom Vater oder von Reviernachbarn. Lern- und Imitations-fähigkeit sind also nachgewiesen. Vergleicht man eine Population von Vögeln mit der menschlichen Gesellschaft, kann man feststellen, daß sowohl bei Menschen als auch bei Vögeln konkrete musikalische Muster, festgelegte Lieder, Melodien sowie deren Umsetzung in akustisch vernehmbaren Klang von Generation zu Generation weitergegeben werden. In beiden Welten haben die Tongebilde Geschichte, sie stammen aus der Vergangenheit der jeweiligen Gesellschaft oder Population. Durch das Angewiesensein auf Individuen der vorigen Generation hat die Weitergabe musikalischer Information bei Vögeln und Menschen neben einer historischen auch eine soziale Dimension.

Beim Nachahmen beschränken sich viele Vögel (Stare, Raben, Singdrosseln, Papageien …) nicht nur auf arttypische Lautäußerungen, sie imitieren auch andere Vogelarten, sogar Klänge und Geräusche, die nicht der Vogelwelt entstammen. Zugsignale, Hundegebell, menschliches Husten, Telefonklingeltöne, Türquietschen, Kreissägen werden mit täuschender Ähnlichkeit nachgeahmt.

Auf die Frage, woher die musikalischen Motive und Melodien im Vogelgesang stammen, wie Elemente unserer menschlichen Musik in die Lautäußerungen der Vögel Eingang gefunden haben, wurden die unterschiedlichsten Antworten gegeben. Evolutionistische Ansätze vermuten am Beginn ein zufälliges, vereinzeltes Auftreten von Pfeiftönen unter den sonstigen geräuschhaften Lautäußerungen der Vögel oder deren hypothetischen Vorfahren. Da diese Töne gegenüber den Geräuschen Überlebensvorteile bieten konnten (bessere Hörbarkeit, größere Reichweite …), könnte sich ein Selektionsdruck in Richtung „musikalische Töne“ etabliert haben. Gegen diese These wurde eingewendet, daß Vogelarten, deren Äußerungen überhaupt keine Töne beinhalten, sich sichtlich genauso erfolgreich vermehren wie die mit den ausgefeiltesten musikalischen Strukturen.

Die Entwicklung des rhythmischen Momentes wird auf physiologische Gegebenheiten des organischen Körpers (Puls, Atmung …) zurückgeführt, darüber hinaus sollen nervliche, hormonelle und muskuläre Bewegungsmuster auf den zeitlichen Ablauf der Lautproduktion projiziert worden sein.

Erwähnenswert ist die Meinung einiger Forscher, die auf Grund ihrer Beobachtungen zu dem Schluß gekommen sind, daß Vögel nicht nur exzellente Imitatoren sind, sondern auch über akustisch-manipulative Fähigkeiten verfügen. Sie ändern die Abfolge aneinandergereihter Liedteile und Motive gegenüber einem Gesangsvorbild, sie variieren also. Darüber hinaus soll in Experimenten auch das Auftauchen gänzlich neuer Laut- oder Tonkombinationen aufgetreten sein. Dies weist bei manchen Arten (z. B. Amseln) auf einen „kreativen“ Umgang mit Lauten und Tönen hin, der bei uns Menschen mit den Begriffen „Komposition“ oder „Invention“ bezeichnet wird, und damit auf eine weitere Parallele zwischen der Musik der Menschen und der Vögel.

Beim Menschen hängt Musik meistens mit Gefühlen zusammen. Einerseits vermittelt Musik diverse Stimmungen und Gefühle, andererseits musiziert man aus solchen Emotionen und Stimmungen heraus. Musik wird in erster Linie erlebt und nicht analysiert, sie spricht zunächst das Gemüt an. Stellen wir die Frage nach der Musikalität der Vögel, wäre wichtig herauszufinden, ob das Erzeugen von Musik bei ihnen eine emotionale Komponente besitzt oder nur einem „mechanischen“ Ablaufen gewisser biologisch-neuronaler Programme gleichkommt. Diese Frage – ob Vögel überhaupt über Emotionen verfügen – wird kontrovers diskutiert. Die Stellungnahmen der Forscher reichen von der Zuerkennung von Motivationen bis zur Annahme von Affekten, Stimmungen, Empfindungen und Gefühlsregungen. (Ob es hierbei – wie bei uns Menschen – auch zu einem bewußten Erleben dieser Zustände kommt, läßt sich mittels empirischer Methoden nicht entscheiden und wird daher auch nicht angenommen.) Einigen wir uns in dieser Frage auch nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner –, nämlich, daß es beim Singen der Vögel zu einer Übermittlung von Informationen über Eigenschaft und Grad aktueller „innerer Zustände“ kommt –, liegt auch hier eine Analogie mit der menschlichen Musik-praxis vor.

Informationsübertragung dürfte der Hauptzweck des Vogelgesanges sein. Für die Übermittlung der Identität eines Vogels und seiner Artzugehörigkeit können verschiedene musikalische Parameter oder verschiedene Liedteile in Anspruch genommen werden. Bei manchen Drosselarten ist die zeitliche Struktur (Rhythmus) artspezifisch, die Frequenzmuster (Melodie) individuell verschieden. Bei anderen (z. B. Rotkehlchen) verhält es sich umgekehrt. Auch verschiedene Liedabschnitte können typische Erkennungsmerkmale übernehmen, so daß der Einleitungsteil über Artzugehörigkeit informiert, während der Schluß individuelle Variation erkennen läßt – oder umgekehrt.
Die individuelle Erkennbarkeit durch Lautäußerungen garantiert die rasche Identifikation von Rivalen, des Partners und auch der Jungen. Durch das spezifische Identifizieren wird die Vermischung von Populationen und Spezies unterbunden, da es als spezifischer Erkennungsschlüssel in der Partnerwahl dient.
Das Anlocken eines Partners und das Abschrecken von Konkurrenten machen auch eine Übermittlung von Positionsdaten notwendig, die den Vogel leichter auffindbar machen bzw. dem Rivalen die Lage des zu meidenden Reviers anzeigen. Tatsächlich können Vögel aus dem Frequenzband eines Liedes auf die Entfernung des Sängers schließen. Aus den an beiden Ohren verschiedenen Ankunftszeiten eines Signals, aus Amplitudendifferenzen, die sich aus dem „akustischen Schatten“ des Kopfes ergeben, sowie mit Hilfe von Phasendifferenzen können Vögel auch die Richtung einer Schallquelle genau abschätzen.
Weitere „latente“ Informationen über Eigenschaft und individuellen Charakter eines Gegenübers erschließen sich einem Vogel durch die Beobachtung von dessen Lied- und Vortragsqualitäten. Die statistische Auswertung von Experimenten ergab, daß höhere Gesangsqualität (Gesangsrate, Länge von Liedabfolgen, Repertoireumfang oder Komplexität) stets mit Dominanz und Durchsetzungsvermögen, aber auch mit höherer Lebenserwartung und einer größeren Anzahl überlebensfähigen Nachwuchses einhergeht. Widmet ein Vogel dem Singen mehr Zeit als seine Artgenossen, so bedeutet das, daß er bei der Nahrungsbeschaffung schneller bzw. geschickter sein muß als seine Konkurrenten, oder auch nur Besitzer eines Reviers ist, das ihm mehr Nahrung zur Verfügung stellt, so daß er für die Nahrungssuche weniger Zeit aufwenden muß. In manchen Spezies läßt sich aus dem Liedschatz auch auf Alter und Lebenserfahrung eines Sängers schließen.
Gesangscharakteristika können also von männlichen wie von weiblichen Individuen zur Einschätzung eines Konkurrenten oder potenti- ellen Partners herangezogen werden. Versuchsergebnisse deuten darauf hin, daß Vögel – je nach Spezies und Situation – von diesen Möglich-keiten auch tatsächlich Gebrauch machen.

Im Zusammenhang mit dem Vogelgesang sprechen manche Forscher von einer übermäßigen „Ausarbeitung“. Sie meinen, daß Aufbau und Struktur vieler Gesänge komplexer sei, als die übertragene Informationsmenge dies erfordern würde. Man spricht hier von „biologischer Redundanz“. Um dieses gelegentlich auftretende „Transzendie-ren“ des biologisch Notwendigen zu erklären, hat man das „Singen um seiner selbst willen“ als ein tierpsychologisches Phänomen herangezogen. Dies impliziert, daß Vögel dem Singen etwas „abgewinnen“, daß es ihnen „gefällt“. Gesang könnte in diesem Sinne als spielerische Tätigkeit verstanden werden. Geräuscherzeugende Wurfspiele, die bei Vögeln beobachtet wurden und ein Experimentieren mit Klängen nahe- legen, weisen in diese Richtung.

Wir Menschen empfinden Vogelgesang als schön und ästhetisch (nach Meinung zahlreicher Ornithologen und Komponisten). Wenn er aus spielerischen, kreativen Tätigkeiten hervorgeht (wie oben angedeutet), bietet sich die Frage an, ob es sich hierbei nicht auch um künstlerische Tätigkeiten handelt? Gibt man sich mit einer allgemeineren Bestim-mung aus der Informationsästhetik zufrieden, die ein Kunstwerk als „Träger ästhetischer Information“ oder als „ästhetisch ansprechendes Zeichengefüge“ festlegt, fällt der Vogelgesang zweifellos unter diesen Begriff. Rigorosere Definitionen der Kunst hingegen lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß nur der Mensch kunstfähig ist, denn durch das mangelnde bzw. nicht nachweisbare Bewußtsein bei Vögeln bleibt das Vorhandensein einer wie auch immer gearteten Intention – daher auch einer Aussage- oder Darstellungsabsicht – fraglich. Somit dürfte es sich beim Vogelgesang um eine ästhetische, wenn auch nicht künstlerische Erscheinung handeln.